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Archiv-Artikel

Die übertriebene Angst des Marathonläufers

Viele Langstreckenläufer überschätzen ihren Flüssigkeitsbedarf bei Wettkämpfen. Sie trinken zu viel. Mediziner warnen vor Hyponatriämie

„Trinken, bevor der Durst kommt.“ So heißt der Leitspruch vieler Langläufer, um ihren Körper bei Wettkämpfen und Trainingsstunden vor drohendem Wasserverlust schützen. Der Lebensmittelhandel macht mit dem Verkauf von Sportler-Drinks Millionenumsätze, und selbst Apotheken und Drogerien verdienen an der Angst der Sportler, dass sie der Wasserverlust beim Zieleinlauf wertvolle Minuten kosten könnte.

Musste sich Emil Zatopek noch durstig ins Ziel schleppen, so kann man sich mittlerweile an den diversen Langlauf- und Marathonstrecken alle paar hundert Meter aus gut gefüllten Plastik- oder Pappbechern versorgen. Und die Athleten nutzen das Angebot. Einige von ihnen kommen auf über vier Liter, die sie sich während eines Wettkampfs einverleiben. Ob sie sich jedoch damit wirklich etwas Gutes antun, ist fraglich.

So rät der Sportmediziner und ehemalige Langläufer Thomas Wessinghage zu einem bis zwei Bechern Flüssigkeit vor dem Lauf, und dann einen Becher für jede zurückgelegte Fünf-Kilometer-Etappe. Beim Marathonlauf müssen also in der Regel nicht mehr als zwei Liter die Kehle herunterfließen. „Bei zehn Kilometern“, so Wessinghage, „kommt man prinzipiell auch ohne zusätzliche Flüssigkeitsaufnahme aus.“

Die Trinkgewohnheiten der Athleten haben mittlerweile jedoch ganz andere Dimensionen angenommen. Am Boston-Marathon kam unlängst eine Frau zu Tode, die an einem der Getränkestände 16 Becher getrunken hatte. Was war passiert? Wenn ein Mensch übermäßig viel Wasser trinkt, sinkt der Natriumwert in seinem Blut. Durch diese „Hyponatriämie“ verändern sich die osmotischen Verhältnisse, die Hirnzellen „saugen“ massiv Wasser aus dem Blut. Unter der Schädeldecke gibt es jedoch keinen Platz zum Ausdehnen, und so steigt der Hirndruck immer weiter an. Das führt erst zur Benommenheit, später können aber auch Bewusstlosigkeit und epileptische Anfälle auftreten. Die tote Läuferin ist nur die Spitze eines Eisbergs von gefährdeten Vieltrinkern in der Laufszene.

Christopher Almond von der Harvard Universität in Boston, Massachusetts, untersuchte die Teilnehmer des dortigen Marathons und fand bei jedem Siebten eine Hyponaträmie. „Und dabei spielte es“, warnt Almond, „keine Rolle, ob die Läufer Wasser oder Sportgetränke zu sich genommen hatten.“

Bei den Frauen war es sogar jede Fünfte, die zu wenig Salz im Blut hatte. Was wahrscheinlich daran liegt, dass sie länger auf der Marathonpiste sind und weniger Körpergewicht haben als Männer. Möglich ist aber auch, dass sie sich aufgrund des geringeren Wasseranteils in ihrem Körper (55 gegenüber 60 Prozent der Männer) einreden, besonders viel trinken zu müssen.

Beim Marathon in London kamen elf „untersalzene“ Läufer wegen Bewusstseinsstörungen in die Klinik. Auffallend war, dass sie erst viele Stunden nach dem Lauf eingeliefert wurden. Der Grund: Die Hyponatriämie wird sowohl von den Läufern als auch von vielen Ärzten nicht erkannt. Oft wird sie mit einem Hitzschlag verwechselt – und der wird meistens vor Ort behandelt. Und zwar in der Regel damit, dass man dem Körper, manchmal sogar per Infusion, Flüssigkeit zuführt. JÖRG ZITTLAU