: „Die tun, als fürchten sie die Revolution“
■ Ost–Berlin bereitet den 1.Mai vor / Im Land herrscht eine tiefe Depression / Seit April wurden 60 ausreisewillige DDR–Bürger zu Haftstrafen verurteilt / Es mehren sich die Spekulationen über den vorzeitigen Abgang Honneckers
Aus Ost–Berlin Bernd Schurian
Reiner Kunzes „Wunderbare Jahre“ flimmern via Westfernsehen in die Stube, sechs, sieben Leute schauen zu. Im Westen mag der Film durchgefallen sein, hier nicht. „Neun Jahre ist der Streifen alt und könnte von heute sein“, kommentiert der Jüngste in der Runde, „genauso weit treiben die uns auch.“ Die Stimmung im Land hat einen Tiefpunkt erreicht. „Wenn sich in zwei, drei Jahren nichts verändert, steht hier Bürgerkrieg ins Haus. Stasi und FDJ– Ordner gegen den Rest der Republik“, gibt ein junger Maler zum Besten. Das Leben stagniert, während alle auf Bewegung wie in Moskau warten. Vorladungen, Belehrungen durch „die Organe“, Verhaftungen und Verurteilungen verunsichern extrem. Die Zahl politischer Häftlinge ist gestiegen. „Die Leute halten ihr Maul nicht mehr, und immer mehr schreiben Eingaben, um sich über Glasnost– Verzögerung und Behördenwillkür zu beschweren“, berichete ein junger Wissenschaftler. Und vielfach reagiert der Staat wie eine Mimose. Offenheit sei manchen Künstlern zwar gestattet, aber sonst? Auf der Probebühne im Brechtensemble durfte Mittwoch eine Nachwuchsautorin lesen - mit Diskussion. Gabi Kachold, eine Autorin mit Knasterfahrung aus der Biermannzeit. Plötzlich, als die Sprache darauf kommt, tauschen Zuhörer offen ihre Erfahrungen mit der Staatsgewalt aus. Die Zivilcourage wächst. „Zu verlieren hat keiner mehr was, besonders die Ausreiseantragsteller. Denen ist alles egal, so deprimiert sind da viele“, trägt ein Schauspieler zur TV–Diskussion bei, „und gerade das macht dem Staat solche Angst, in der Provinz fast noch mehr als hier in Ost–Berlin.“ Junge Leute wurden vorzeitig zum 26.April einberufen, gerade solche, die einen Antrag laufen haben. So sind sie am 1.Mai aus dem Verkehr gezogen. Geld– und Gefängnisstrafen sind bekanntgeworden, für jene, die sich öffentlich zu möglichem Protest bekannten. Die Furcht vor Ausreiseaktionen ist auch ein Thema für Bezirksparteiversammlungen. Transparente sollen diesmal erst an den Sammelstellen ausgehändigt werden, damit keiner auf falsche Gedanken kommt. Die ideologische Auseinandersetzung wirkt hilflos, manche Argumentation verheddert sich. Journalisten wird zunehmend die Berichterstattung erschwert, das zuständige Außenministerium handelt nach übergeordneten Entscheidungen aus dem ZK. Es herrscht allgemeine Verwirrung. „Dabei hat das Rezept doch gerade im Neuen Deutschland gestanden, abgedruckt aus der Prawda“ - eine Theologiestudentin zitiert: „Demokratie ist nicht möglich ohne Gedanken– und Meinungsfreiheit, ohne offenen und umfassenden Meinungsstreit, ohne kritischen Blick auf unser Leben“. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, von Dobrynins Prager Sozialismuskritik ganz zu schweigen. Immerhin wird „öffentliches Nachdenken“, Eigenverantwortung und Selbstkritik schon häufiger von manchen SED–Funktionären in den Mund genommen, auch im DDR–Rundfunk. Der Gastgeber unseres Fernsehabends hat die neue Ausgabe der Zeitschrift Unterhaltungskunst zur Hand. Eine Beilage übt schärfste Kritik am niveaulosen Zustand der DDR–Kultur. In einem Absatz geht der Autor darauf ein, daß „viele Künstler der DDR die Gesetze, die die Grundlage ihrer Arbeit bilden, gar nicht kennen. Das mag seine Gründe haben zum Beispiel auch darin, daß fast alle DDR–Bürger so geborgen und umsorgt sind, daß Gesetzeskenntnisse kaum notwendig sind. ... Alles andere wird einem schon zur gegebenen Zeit gesagt werden.“ Zum Beispiel dann, wenn Stasi und Ordnungshüter vor der Türe stehen und irgendeinen Paragraphen rezitieren? Die Runde lacht. Einige wollen am 1.Mai Berlin verlassen, damit sie erst gar nicht „belästigt“ werden, falls es wieder zu Razzien wie rund um den 17.Januar kommt. „Die tun so, als fürchten sie die Revolution“, wird über die Staatsmacht gelästert. Schon werden Wetten darauf abgeschlossen, daß der 75jährige Honecker noch vor dem nächsten Parteitag geht - viel früher, als zunächst erwartet. Der Zorn der Alten Männer über das frische Denken aus dem Kreml ist ein Hemmnis für einen fortschrittlichen Staat, der die DDR sein will - auch im Wettkampf der Systeme.
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