Die türkische Elf vor dem Halbfinale: Die gefährliche Rumpftruppe
Wirkliche Not oder guter Bluff? Vor dem Halbfinale gegen Deutschland ist die türkische Mannschaft durch Verletzungen und Sperren stark dezimiert. Die einsatzbereiten Spieler in der Einzelkritik
Wenn einer unablässig eine Selbstverständlichkeit betont, ist dies ein sicheres Indiz dafür, dass genau das Gegenteil wahr ist. Ein Inserat "Seriös! 50.000 Euro Sofortkredit", wirkt eben nicht seriös. Ähnlich könnte es sich mit einer Mannschaft verhalten, die am Vorabend eines EM-Halbfinales penetrant beteuert, ihren Gegner nicht zu unterschätzen. Die Türken tun ohnehin das Ihrige, um die Deutschen in Sicherheit zu wiegen. So erweckte Trainer Fatih Terim den Eindruck, er werde eingedenk der vielen gesperrten oder verletzten Stammkräfte auf den Busfahrer oder den Koch zurückgreifen, um elf Mitwirkende zusammenzukratzen. Tatsächlich aber bieten die verbliebenen zwölf Feldspieler verschiedene taktische Möglichkeiten. Etwa ein 4-2-3-1-System mit folgender Aufstellung:
Rüstü Recber: Der für den gesperrten Volkan Demirel ins Tor gerückte Rekordnationalspieler ist auf der Linie ordentlich, zuweilen brillant. Und solange seine Vorderleute die Deutschen vom Flanken abhalten, wird er kaum in Verlegenheit geraten.
Sabri Sarioglu: Der Flügelmann von Galatasaray löste im Viertelfinale Hamit Altintop auf der rechten Außenbahn ab, hatte anfangs aber Probleme. Dank seiner Schnelligkeit kann er die linke Seite der Deutschen blockieren und selbst für Druck nach vorne sorgen.
Gökhan Zan: Der Verteidiger von Besiktas ist ein Brechertyp: Robust, groß und kopfballstark. Wenn er Miroslav Klose ausschaltet, hat er seinen Job erfüllt.
Hakan Balta: Der gebürtige Berliner von Galatasaray war bislang auf der linken Abwehrseite gesetzt und ist einer der Konstantesten. Nun könnte Fatih Terim ihn in die Innenverteidigung beordern, wo er schon früher bei Manisa oft gespielt hat.
Ugur Boral: Bei Fenerbahçe spielt er zumeist vor Roberto Carlos im linken Mittelfeld, kann aber auf der Außenbahn sämtliche Positionen einnehmen. Gut möglich, dass er in die Viererkette rückt. Boral ist besonders in Eins-gegen-eins-Situationen stark und trickreich. Sowohl seine Flanken von der Grundlinie wie sein eigener Drang zum Tor machen ihn gefährlich. Im entscheidenden Gruppenspiel der Champions League bei ZSKA Moskau schoss er beide Tore; im Achtelfinale beim FC Sevilla spielte er Daniel Alves schwindlig - und der gilt als derzeit bester Rechtsverteidiger der Welt.
Mehmet Aurélio: Der eingebürgerte Brasilianer ist ein Schlüsselspieler. Er kam als rechter Mittelfeldmann zu Fenerbahce, wo er von Christoph Daum zum Sechser umgeschult wurde. Er ist technisch, kämpferisch und taktisch versiert und fungiert als Spieleröffner. Michael Ballack machte mit ihm im Viertelfinale der Champions League Bekanntschaft, als er mit Chelsea in Istanbul 1:2 verlor.
Ayhan Akman: Der Routinier von Galatasaray spielt im defensiven Mittelfeld, arbeitet aber auch in der Offensive mit.
Kazim Kazim: Hat der gebürtige robuste Londoner einmal den Ball erobert, lässt er sich dank seiner Zweikampf- und Dribbelstärke kaum von ihm trennen. Nach einer Saison bei Fenerbahce hat er weiterhin Anpassungsprobleme, zumal er immer noch kein Wort Türkisch spricht. Seine Eigenwilligkeit und Unberechenbarkeit sind Schwäche und Stärke zugleich.
Hamit Altintop: So zurückhaltend der Bayern-Spieler außerhalb des Platzes wirkt, ist er im Verlauf des Turniers zum Führungsspieler avanciert und hat demonstriert, wie sehr er nach einem Jahr beim FC Bayern Oliver Kahns "Weida, imma weida" verinnerlicht hat. In den Gruppenspielen war er als rechter Außenverteidiger eingesetzt und durfte erst nach dem 0:2 im Tschechien-Spiel ins Mittelfeld wechseln, wo er das Powerplay organisierte und alle drei Tore vorbereitete. Wenn Terim gewinnen will, wird er das Risiko eingehen müssen, Altintop im Mittelfeld zu belassen. Und Terim wird gewinnen wollen.
Mehmet Topal: Der junge Mittelfeldspieler hatte großen Anteil am Titelgewinn von Galatasaray, wo er unter Karlheinz Feldkamp Stammspieler wurde. Bei einer anderen Taktik könnte der beidfüßige und schussstarke Topal wie früher bei Canakkale als Innenverteidiger spielen.
Semih Sentürk: Mit 17 Treffern wurde der Angreifer von Fenerbahce in der vergangenen Saison zum Torschützenkönig der türkischen Liga, obwohl er oft nur als Joker eingewechselt wurde. Auch im Kroatienspiel kam er erst Mitte der zweiten Halbzeit, ehe er zum Last-Second-Tor traf. In der Nationalmannschaft ist er der einzige Stürmer, der mit dem Rücken zum gegnerischen Tor spielt.
So blieben immer noch zwei Ersatzleute: Gökdeniz Karadeniz, ein kleiner und torgefährlicher Mittelfeldspieler, der nach einer Reihe persönlicher Probleme und Skandale seit Anfang dieses Jahres beim gegenwärtigen russischen Tabellenführer Rubin Kazan spielt - was nach dieser EM als Auszeichnung verstanden werden darf. Er wäre auch eine Alternative zu Kazim Kazim. Und dann gibt es noch Mevlüt Erdinc, einen kräftigen Stoßstürmer vom französischen Erstligisten FC Soucheaux, der es dort in der vorigen Saison auf elf Tore brachte. Bei einer offensiveren Ausrichtung könnte er auch in der Startelf stehen.
Zudem besteht bei drei Verletzten - namentlich Abwehrchef Servet Cetin, Kapitän Emre Belözoglu und Mittelfeldspieler Tümer Metin - die Hoffnung, dass die medizinische Abteilung sie noch fit kriegt. Und schon wären etliche neue Variationen denkbar. Ganz ohne Busfahrer und Koch.
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