■ Die tschechische Regierung entschädigt NS-Opfer selbst: Warten auf Gerechtigkeit
Als im Februar 1992 der deutsch-tschechoslowakische Vertrag über freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet wurde, war es nicht nur die Prager Regierung, die mit diesem Abkommen einen dicken Schlußstrich unter die Geschichte beider Staaten, unter die gegenseitige Aufrechnung von Besetzung und Vertreibung ziehen wollte. Auch Bonn, selbst wenn man es dort mit Rücksicht auf die Sudetendeutsche Landsmannschaft nicht zugab, war durchaus bereit, den Blick nun in die Zukunft zu lenken.
Nicht erst in dieser Woche, aber in dieser Woche besonders eindringlich wurde nun klar, daß sich ein solcher Schlußstrich vielleicht unter die gegenseitige Aufrechnung des geschehenen Unrechts ziehen läßt, nicht aber unter die konkrete Leidensgeschichte der Opfer. Sie leben nämlich noch und warten auf Gerechtigkeit: Aus der mährischen Landeshauptstadt Brno wurde vermeldet, daß das dortige Verfassungsgericht die Klage eines Deutschen auf Rückgabe seines nach dem Zweiten Weltkrieg noch von der demokratischen tschechischen Regierung enteigneten Eigentums zurückgewiesen hat. Aus Prag kam dagegen die Nachricht, daß die tschechische Republik nicht länger auf eine Entschädigung ihrer NS-Opfer durch Deutschland warten will und diese selbst übernimmt.
Nun wurde bisher eine Regelung der beiderseitigen Entschädigungsforderungen stets durch ihre Verkopplung verhindert. Zwar sprach man nicht offiziell davon, doch im Hintergrund der Überlegungen der Politiker beider Seiten war klar, daß eine Entschädigung der NS-Opfer ohne eine Regelung für die Opfer der Vertreibung nicht möglich sein wird. Konkret: Als die tschechische Regierung im Frühjahr 1993 eine „Geste des guten Willens“ und damit eine Entschädigung für einen Teil der Vertriebenen vorschlagen wollte, veranlaßte sie der Sturm der tschechischen Entrüstung zu einem überstürzten Rückzieher. Als Bonn über eine Stiftung für die NS-Opfer nachdachte, ließ der Protest der Sudetendeutschen Landsmannschaft nicht lange auf sich warten. Und als Rita Süssmuth es sich erlaubte, das vor fünfzig Jahren von beiden Seiten begangene Unrecht bei einem Besuch der Tschechischen Republik auch nur zu erwähnen, hätte dies fast zum Abbruch der Reise geführt.
Bevor eine der beiden Seiten bereit sein wird, die politischen Rücksichten im eigenen Land außer acht zu lassen und eigene Verantwortung einzugestehen, werden daher noch unzählige Vergangenheitsbewältigungs-Diskussionen vergehen. Sollen die Opfer nicht erst nach ihrem Tod entschädigt werden, scheint somit allein das nun in Prag beschlossene Gesetz einen – freilich ernüchternden – Ausweg zu bieten. Tschechen müssen Tschechen und Deutsche müssen Deutsche entschädigen. Sabine Herre
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