■ Die stellvertr. SPD-Parteivorsitzende Renate Schmidt: „Wir sind nicht in einem Jammertal“
taz: Sind Sie zufrieden mit der Entscheidung im Parteivorstand über das zukünftige Vorgehen im Personalkarussell?
Renate Schmidt: Es geht nicht um meine Zufriedenheit. Ich bin froh, daß eine Entscheidung gefallen ist. Die Stimmung war gemischt, wir strotzen im Moment nicht vor Fröhlichkeit. Ich hätte mir aber schnellere Entscheidungen in den Fragen Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur gewünscht.
Die SPD-Führung befragt jetzt bis zum Herbst die Mitglieder, weil sie selbst nicht mehr weiter weiß...
...das ist jetzt ja nicht unbedingt eine Mitgliederbefragung, wie ich sie wollte. Bis zum nächsten Montag soll die genaue Form dieser umfassenden Mitgliederbeteiligung klar sein. Eine Partei aber, die plebiszitäre Momente in der Verfassung fordert, sollte solche Elemente auch in ihrer Mitgliedschaft zulassen. Das ist ein Präjudiz für die Zukunft. Das hat aber nichts damit zu tun, daß man jetzt nicht mehr selbst entscheiden will oder daß man Führung aufgibt. Führung kann sich gerade darin beweisen, daß man versucht, Mitglieder zu motivieren und eine größere Offenheit in der eigenen Partei zu praktizieren.
Die innerparteiliche Diskussion vermittelt den Eindruck, als ob die SPD eine/n KanzlerkandidatIn für die Befriedung der Partei sucht und nicht eine/n, die/der gegen Kohl gewinnen soll.
Daß wir jetzt noch Personaldiskussionen haben, versteht sich ja wohl von selbst. Unser designierter Kanzlerkandidat Björn Engholm steht nicht mehr zur Verfügung, und Johannes Rau will nur für einen Übergangszeitraum zur Verfügung stehen. Wir haben also im Moment eine gewisse Orientierungslosigkeit, was Personen betrifft. Die muß aber schnell beseitigt werden. Es kann und darf keine lange Phase der Entscheidungsfindung geben.
Welche Qualitäten braucht ein Herausforderer von Helmut Kohl?
Zuerst einmal Führungsfähigkeit, egal ob als Parteivorsitzende/r oder KanzlerkandidatIn. Das bedeutet, Sachverstand organisieren können, und zwar auch einen, der nicht immer der eigenen politischen Überzeugung entspricht. Dann kommunizieren können mit den unterschiedlichsten Menschen nach außen, aber auch insbesondere mit den unterschiedlichen Meinungen innerhalb der Partei. Dann natürlich entscheiden können und Politik den Menschen so vermitteln können, daß die auch verstehen, was die Alternativen der SPD sind und was unsere bessere Politik für sie in ihrem persönlichen Leben konkret bedeutet.
Kann dies eine Kandidatin besser als ein Kandidat?
Das kommt auf den Menschen an. Es gibt Politikerinnen, die reden so, daß sie kein Mensch versteht, und es gibt Politiker, die dies tun. Meine Beobachtung ist, daß dies bei Männern häufiger der Fall ist.
Die SPD ist ja nicht nur personell orientierungslos, sondern auch in zentralen Inhaltsfragen.
Foto: bonn-sequenz
...diese Beurteilung kann ich nicht teilen. Wir haben mit unserem Sofortprogramm und anderen programmatischen Vorschlägen auf wichtige Fragen der heutigen Zeit vernünftige Antworten gegeben. Es ist jedoch so, daß die unterschiedlichen Positionen nicht in der notwendigen Offenheit ausdiskutiert worden sind und daß in der Partei selbst, in der Mitgliedschaft, immer noch Unzufriedenheit über die gefundenen Kompromisse besteht. Das betrifft beispielsweise das Thema Asyl. Aber unterschiedliche Positionen sind aushaltbar. Wir haben dies in der Frage des Nato-Doppelbeschlusses auch über lange Zeit ausgehalten, ohne daß es der Partei in den Wahlergebnissen geschadet hat. Dann die Blauhelmeinsätze. Hier haben wir eine vernünftige Position. Wir haben Kriterien für die Einsätze festgelegt und haben gesagt, Kampfeinsätze brauchen wir nicht. Nun gibt es nicht wenige in unserer Partei, die sagen, das reicht nicht, und andere, denen das schon zu weit geht. Da muß man noch einmal offen diskutieren.
Blauhelmeinsätze seien die Grenze, alles andere wäre ein Weg in eine andere Republik, sagten Sie beim letzten Landesparteitag.
Das ist meine Position schon immer. Ich habe mich mühevoll darauf eingelassen, Blauhelmeinsätze als notwendig anzusehen. Jetzt stehen wir aber an einem Scheideweg, ob wir unter Umständen das Instrumentarium schaffen, das es ermöglichen würde, nicht näher definierte Interessen weltweit mit Waffengewalt zu vertreten. Das ist ein Irrweg dahin, daß das Undenkbare, Krieg als Mittel der Politik, nicht nur nicht wieder denkbar, sondern alltägliche oder alljährliche Praxis würde.
Wie muß die SPD für das Wahljahr 1994 ihr Profil schärfen?
Die Wahlauseinandersetzungen 1994 werden bestimmt sein von den wirtschaftlichen Krisen, nicht nur von der Konjunkturkrise, die ist überwindbar, sondern auch von der Strukturkrise. Wir haben eine immer weiter steigende Arbeitslosigkeit in Ost und West, und das in einem Staat, der aufgrund seiner finanziellen Situation nur noch begrenzt handlungsfähig ist. Die Abgabenbelastung ist in der Zwischenzeit bei Menschen mit durchschnittlichen Einkommen so stark, daß dies von ihnen nahezu als unerträglich empfunden wird. In einem solchen Dilemma Lösungen zu finden, das wird die Wahlauseinandersetzung 1994 prägen.
Lafontaine behauptet, der weitere Bestand der Demokratie ist abhängig von der zukünftigen Verteilung der Arbeit. Plädieren Sie auch für eine Verkürzung der täglichen Erwerbsarbeitszeit?
In den letzten zehn Jahren hatten wir bei einer immensen Steigerung des Bruttosozialprodukts keine adäquate Steigerung der Beschäftigung gehabt. Die Arbeit, die vorhanden ist, muß man also anders verteilen. In welcher Form und wie das finanzierbar ist, das werden wir als Sozialdemokraten sehr sorgfältig gemeinsam mit den Gewerkschaften prüfen und rechtzeitig sagen müssen.
Das Regieren 1994 in Bonn wird ein äußerst undankbares Geschäft. Handlungsspielräume werden noch enger. Wäre dies noch eine reizvolle Aufgabe für eine Kanzlerin Schmidt?
Das schwierigste ist immer das reizvollste. Das, was man jeden Tag mit links machen kann, ist doch eher langweilig. Es geht ja nicht nur um sozial gerechte Verteilungspolitik. Man muß jetzt Phantasie walten lassen, was man anders, einfacher und preiswerter machen kann, also versuchen, Lebensqualität auf eine andere Art und Weise zu erhöhen, Menschen mit einzubinden und das „Mehr Demokratie wagen“ von Willy Brandt konkret umzusetzen. Wir sind nicht in einem Jammertal, wir haben große Probleme, aber wir müssen den Menschen eine Perspektive geben. In solchen Zeiten Regierungsverantwortung zu übernehmen ist eine der größten Herausforderungen überhaupt — egal ob in München oder in Bonn.
Wann werden Sie über Ihre Kandidatur entscheiden?
Das wird in absehbarster Zeit sein. Interview: Bernd Siegler
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