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Archiv-Artikel

Die pure Fleischeslust

Süße, Sex, Fett und Anarchie: In der Fastnacht zeigt sich alle Jahre wieder die ungezügelte Sinnlichkeit des Essens. Bald ist es wieder so weit!

VON TILL EHRLICH

Ob Fastnacht, Fasching, Fastelovend oder Fasnacht, jedes echte Narrenfest verhöhnt das „Fasten“, weil genau das Gegenteil geschieht: entfesseltes Toben und Treiben, maßloses Trinken und Schlemmen, bevor die Hungerei des Osterfastens beginnt. Das Narrenfest ist der letzte Rausch und das große Fressen. Der Gegenpol zur freudlosen Fastenzeit, in der Sex, Tanz, Fleischgenuss, Alkohol und Anarchie tabu sind.

Im „Karneval“ schwingt die Fleischeslust mit; „Carne“ ist das Fleisch und „carnale“, die „fleischliche“ Zeit, die man auch als Pause deuten kann, als Interregnum im normalen Lauf der Dinge. Es ist ein gefährlicher Moment, weil die alten Normen nicht mehr gelten und die neuen noch keine Gültigkeit haben. Es ist zum Verrücktwerden. Das alte Jahr ist tot, und man will nicht mit ihm untergehen, doch das neue ist noch nicht in Sicht. Carrus navalis ist das Seegefährt, das sich archaischer Astrologie zufolge in unsichere Gewässer wagt, weit entfernt vom Hafen der sicheren Zeit. Auf offener See gelten die alten Normen nicht mehr. Das Meer ist frei und der Tod nah.

Bei diesem Fest kommt jeder und alles zusammen. Dem kräftigen Essen entspricht das exzessive Trinken. Man muss fett essen, um viel trinken zu können, um fett feiern und tanzen zu können. Kein Wunder, dass der Höhepunkt des Narrenfestes in vielen Gegenden oft „fett“ genannt wird. In New Orleans heißt der „fette Dienstag“ Mardi Gras, in Italien Martedì Grasso. Im rheinischen Karneval nennt man die Weiberfastnacht fetten oder schmutzigen Donnerstag. Es soll im Mittelalter traditionell der Tag gewesen sein, an dem vor Beginn der österlichen Fastenzeit noch ein letztes Mal geschlachtet werden durfte. Doch wohin mit dem ganzen Fett?

Das Symbol aller Karnevalsspeisen ist das in schwimmendem Fett gebackene süße Schmalz- und Fettgebäck, das Krapfen oder Fasnetsküchle, Faschingskräppel, Berliner, Pfannkuchen, Mutzen, Munzen, Mutzenmandeln oder in Italien Chiacchiere genannt wird. „Wer keine Krappel backt, dem kann das Jahr durch nicht froh sein“, lautet ein alter Karnevalsspruch. Wenn der Krapfen aus dem heißen Fettbad gefischt ist, wird er in Zucker gewälzt. Er muss nicht unbedingt gefüllt sein. Am intensivsten schmeckt er heiß. Entscheidend für den Geschmack ist die Qualität des Fettes, in dem der Teig schwimmend gebacken wird. Ursprünglich wurde ausgelassenes Schweineschmalz verwendet, später Butterschmalz, Öl oder Frittierfett. Schweineschmalz ergibt eine würzige, leicht animalische Note, die wunderbar zur Süße des Zuckers passt. Butterschmalz macht die Sache feiner. Die meisten Konditoreien und Bäckereien in Deutschland verwenden heute strapazierfähiges Frittierfett, das für Pommes und Imbissbuden entwickelt wurde. Es verdirbt den Geschmack der Krapfen. Heute halten die Backfabriken in Deutschland weitgehend das Krapfenmonopol, was dazu geführt hat, dass die Karnevalstradition den Bach hinuntergegangen ist. Bis auf Ausnahmen sind die Krapfen zu einem geschmacklosen, übersüßen Industriegebäck verkommen.

Auch Deftiges und Herzhaftes bildet eine gute Grundlage für das physische Durchhalten. Schwere fette Speisen – besonders aus Schweinefleisch – werden daher bis heute bevorzugt. Man isst noch immer gern Hülsenfrüchte dazu wie Bohnen, Linsen oder Erbsen, die Blähungen verursachen und ursprünglich die Befreiung toter Seelen erleichtern sollten.

Unter allen Umständen muss Fleisch gegessen werden. Beim rheinischen Karneval sind Frikadellen, Gulaschsuppe, Reibekuchen, Sauerkraut, Wurst, Speck, Kartoffelsalat und Chili con carne beliebt. Auch Salziges und Saures ist willkommen wie Essiggemüse, saure Gurken, eingelegter Hering oder Sauerbraten.

Im Tessin ist „Spezzatino“ ein Karnevalsessen, ein Rinderragout, das mit Rotwein, Grappa, Tomaten, Steinpilzen und Wacholder geschmort wird. Der italienische Karnevalsklassiker ist „Zampone“, der gefüllte Schweinefuß. Der Knochen wird herausgeschnitten und ersetzt durch eine Füllung aus gehackter Schulter und Nacken sowie Haxe, Ohren oder Backen vom Schwein. Der Fuß wird in Rotwein geschmort und in einem Sugo aus rot-weiß gesprenkelten Borlottibohnen, Kräutern und Tomaten gereicht. Auch Linsengemüse ist zum Schweinefuß beliebt, ebenso Lasagne.

In New Orleans geht es hot and spicy zu im Sinne des Cajun-Style. Das sind kreolische Reisgerichte, wie „dirty rice“ oder scharfes Huhn und Rote Bohnen mit Chili.

In vielen Karnevalsriten wurden Speisen mit Fruchtbarkeitsritualen verbunden. Ihre magische Aufladung ist teilweise bis heute erhalten. Dazu gehörten das in fast allen Religionen tabuisierte Schwein sowie Ziege und Stier. Auch der Hahn war eine Karnevalsspeise, er verkörperte den Wachstumsgeist. Man buk süße Kuchen in Form dieser Tiere. Ein Ritual, das überlebt hat, ist das Werfen mit Mehl. In der Basler Fasnacht gehört die gebrannte Mehlsuppe dazu, süßes Schmalzgebäck ebenfalls. Das sinnliche Schlemmen bezog sich auf heidnische Fruchtbarkeitsriten, die das Sprießen der Samen, die Empfängnis von Kindern, Glück und Reichtum im neuen Jahr hervorrufen sollten.

Das Karnevalsfest war die Wiederkehr der magischen Zeit. Nur in wenigen ländlichen Regionen und Hochburgen am Rhein, in Basel, Nizza, Rio, Trinidad, Mazatlan oder New Orleans hat der Zauber des alten Festes überlebt. Zwischen Entertaining, Kommerz, Tourismus und Eventmarketing blitzt hier manchmal noch wie ein Wetterleuchten seine unheimliche Kraft auf.

Dort, wo der Karneval noch heute seine Anarchie entfalten kann, wird das Andere präsent, das im Alltag nicht gelebt werden kann. Es wird sichtbar als Phänomen in Form derber Gelage, orgiastischer Fruchtbarkeitsrituale, grausamer Opfer, Masken, Verwandlungen, Hexen, Teufel, Narren und Totensymbole. Auch die Transvestition der Geschlechter lebt in den Narrenfesten auf. Ein szenisches Spiel, das das Andere als Groteske zeigt.

Die heute weitgehend verschwundenen Karnevalsumzüge gingen zurück auf die Saturnalien. Der Geist der Wollust und Freiheit war ein Zug des heidnischen Karnevals, der gegen die politische Macht und sittliche Moral aufbegehrt hatte. Die Christen waren gezwungen, ihren Widerstand gegen das närrische Treiben aufzugeben.

Karneval war eine Manifestation überschäumender Energien, die die erstarrte Kruste des alten Jahres aufbrachen, um sich von ihm zu befreien. Eine Zeit legaler Gesetzlosigkeit. Lachen, Tanz und Maskerade, Völlerei und Schlemmerei waren die Elemente dieser Befreiung. Dabei kam etwas Wahrhaftiges zum Vorschein, was im Alltag unterdrückt wird. So zeigt die Karnevalsschlemmerei, dass Essen etwas Sinnliches ist. Und dass es wirklich etwas mit Lust und Sex zu tun hat. Dass es etwas ist, was über das lebensnotwendige Stillen des Ernährungsbedürfnisses hinausgeht. Dass es ein Fest sein kann, zu essen, und dass der Mensch orale Lüste hat, die eine eigene Sinnlichkeitskultur geschaffen haben. Und dass Karneval nicht nur eine katholische Angelegenheit und der Protestantismus nicht der Feind des Karnevals ist, sondern ihn sogar noch verstärkt hat.

Erst mit der Modernisierung wurden die orgiastischen Elemente dieser Umzüge kontrollierter und schwächer. Die Karnevalsbräuche erstickten an der Industrialisierung, die rasch schaffte, was die Kirche in Jahrhunderten nicht erreichen konnte. Seltsamerweise sind dort, wo es längst keinen närrischen Irrsinn mehr gibt, die Faschingskrapfen geblieben. Letzte Erinnerungen an die anarchische Zeit.

TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, serviert die taz-Sättigungsbeilage