■ Die polnische Opposition hat die juristische Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit selbst erledigt: Vergebene Chancen
Die Verhörmethoden waren auch im polnischen Stalinismus brutal. Beamte des Staatssicherheitsdienstes schlugen den Untersuchungsgefangenen — Männern wie Frauen — mit Peitschen zwischen die Beine, verbrannten sie mit Zigaretten und Bügeleisen, rissen ihnen die Nägel aus, übergossen sie mit Wasser und schickten sie nackt in den Frost. Anfang März ging in Warschau der bisher größte Prozeß gegen Staatsverbrecher aus der Zeit des Stalinismus zu Ende. 74 Zeugen schilderten in den letzten drei Jahren die Folterungen und Schikanen, die sie Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre in polnischen Gefängnissen erleiden mußten. Die zwölf Angeklagten wurden in fast allen Anklagepunkten für schuldig befunden und zu Haftstrafen von zwei bis zu neun Jahren verurteilt.
Der Prozeß war möglich geworden, weil im April 1991 das von Solidarność-Anhängern dominierte Parlament die Verjährung für stalinistische Verbrechen aufgehoben hatte. Die Zahl der Opfer steht bis heute nicht fest: Mehrere hunderttausend Menschen wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit politisch verfolgt, gut 3.000 „Verräter“, die während des Krieges auf der „falschen Seite des Widerstands“ gekämpft hatten, zum Tode verurteilt. Rund 30.000 Menschen, so schätzen Historiker vorsichtig, fielen dem Bürgerkrieg zwischen den von Stalin unterstützten Kommunisten und der größten Untergrundarmee des Zweiten Weltkriegs zum Opfer.
Die juristische Vergangenheitsbewältigung, die in Polen gerade erst begonnen hat, soll sich allerdings nur auf die Stalinzeit und einige besonders brutale Menschenschinder beschränken. Zwar gab es auch unter Edward Gierek und Wojciech Jaruzelski Opfer, die heute vor Gericht ziehen und auf späte Gerechtigkeit hoffen, doch insgesamt läßt sich dieser gemäßigte Kommunismus kaum mit der totalitären Phase direkt nach dem Krieg vergleichen. Zudem haben natürlich die derzeit regierenden Postkommunisten kein Interesse an einer juristischen Aufarbeitung der unmittelbaren Vergangenheit. Präsident, Ministerpräsident und die Inhaber der wichtigsten Ministerämter rekrutieren sich wieder aus der alten Nomenklatura.
An Zynismus nicht zu überbieten ist allerdings, daß auch im „Amt für die Untergrundsoldaten und Repressionsopfer“ ein Mann der alten Garde sitzt: Ryszard Jarzebowski. Der stellvertretende Amtsleiter, der seine 1965 in der KP begonnene Karriere 1990 in der Nachfolgepartei der Sozialdemokraten fortsetzen konnte, findet das Urteil gegen seine Parteigenossen von einst „inhuman“. Über 70jährige Männer bringe man nicht hinter Gitter, auch wenn diese Verbrecher seien. Dies sei „politische Rache“. Und an diesen Mann, der für sadistische Schläger Humanität einfordert, sollen sich nun die damaligen Opfer wenden. Ihn sollen sie um Formulare für Entschädigung bitten, bei ihm sollen sie ärztliche und psychiatrische Gutachten über die Folgen der brutalen Verhörmethoden seiner Parteigenossen von einst abgeben.
Daß es soweit kommen konnte, haben die Solidarność-Regierungen zu verantworten. Polens ehemalige Oppositionelle vergaben Anfang der 90er Jahre die Chance, nicht nur die Verbrechen des Sicherheitsdienstes in der Stalin-Zeit vor den Kadi zu bringen. Sie vertaten auch die Chance, ein demokratisches System zu errichten, das die ehemaligen Opfer vor genau der Situation schützte, die nun im Falle Jarzembowskis eingetreten ist. Heute sind sie wieder in der Opposition und völlig machtlos.
Anstatt die Mechanismen des polnischen Staatssicherheitsdienstes aufzudecken, gefielen sich Mazowiecki und Suchocka, Michnik und Kuron in der Rolle edler Menschen, die ihre Macht nicht ausnutzten, sondern den Gegnern von einst das „Recht auf einen Irrtum“ zugestanden – auch wenn dieser Irrtum über 40 Jahre lang das Denken der Schreibtischtäter bestimmte und etliche Menschen ihr Lebensglück kostete. Unter Demokratie verstanden sie die Teilhabe aller Staatsbürger am politischen Leben, auch der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter, denen man die Chance auf Wandlung geben wollte. Aus Angst vor einer Stasi- Hatz à la Bild-Zeitung oder Spiegel erstickten die Solidarność-Intellektuellen die Debatte über die Vergangenheit bereits im Keim.
Am 13. Dezember 1991, dem zehnten Jahrestag der Ausrufung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski, veröffentlichte Adam Michnik, einst führender Kopf der Opposition, einen flammenden Versöhnungsappell. Da das Streben der Opfer nach Gerechtigkeit nur allzuoft in blinde Rache umschlage, solle man lieber gleich darauf verzichten. Statt dessen sollte das Parlament „im Namen von Vergebung und Versöhnung“ eine Gesamtamnestie erlassen und die polnischen Stasi-Akten schließen.
Der Unterschied zwischen Michnik und den anderen Opfern des kommunistischen Regimes ist allerdings, daß er Einblick in seine Akte hatte. Er weiß also, wem er vergibt, wenn er Vergebung und Versöhnung einfordert. Den anderen Opfern will er das Recht auf Akteneinsicht verwehren, da er bei ihnen im Gegensatz zu sich Rachegelüste vermutet. Sie sollen vergeben, ohne zu wissen, wer sie bespitzelt und ins Gefängnis gebracht hat, warum sie die Arbeit verloren.
Ganz anders erklärte Andrzej Szczypiorski seine Ablehnung einer polnischen Gauck-Behörde. Weshalb er dazu seine Argumentation völkisch-national einfärbte, bleibt sein Geheimnis. Der Schriftsteller, in Deutschland durch seinen Roman „Die schöne Frau Seidenmann“ bekannt, schrieb in der FAZ: „Das Pflichtgefühl läßt in der deutschen Seele nicht allzuviel Raum für allgemeinere moralische Erwägungen.“ Der höchste ethische Wert „des Deutschen“ aber sei die Pflichterfüllung. Aus diesem Grund habe es in der DDR „das am besten funktionierende Netz von Polizeispitzeln“ gegeben. Der Pole hingegen sei ein „anarchistischer Individualist“. Niemand im ehemaligen Ostblock habe „seine kommunistischen Pflichten leichter genommen als die Polen in der Volksrepublik“. Die polnische Stasi sei „faul, einfallslos, korrumpiert und verlogen“ gewesen und habe aus lauter Faulheit ihre „eigenen Aktionen, Berichte und Planungen gefälscht“. Die polnischen Stasi-Akten eigneten sich also nicht zur „Lustration“.
Die polnische „Gauck-Behörde“ kommt nun aber doch. Allerdings sollen jetzt vor allem die Oppositionellen „durchleuchtet“ werden, wenn sie nach einem öffentlichen Amt streben. Das bedeutet Stabilisierung der derzeitigen Machtverhältnisse. Die Opposition hat sich selbst erledigt. Gabriele Lesser, Warschau
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