: Die neuen Sklaven
Der Soziologe Hanns Wienold legt eine Untersuchung über die Auswirkungen der Globalisierung auf die Landwirtschaften im Norden und Süden Indiens und in Brasilien vor
Hanns Wienold beschreibt Phänomene in drei Regionen der Welt, die zumindest eine gemeinsame Ursache haben. In „Leben und Sterben auf dem Lande“ zeigt der Münsteraner Wissenschaftler auch anhand eigener vor Ort gewonnener Erkenntnisse, dass viele Landarbeiter in Brasilien bestenfalls schlecht überleben und tausende Kleinbauern in Indien den Tod als einzigen Ausweg aus ihrer Not sehen.
Über die hohe Selbstmordrate unter Baumwollbauern in den südindischen Bundesstaaten Maharashtra und Andhra Pradesh berichteten viele Medien. Rund 1.000, mitunter 2.000 Männer nehmen sich dort pro Jahr das Leben. Die Ertragspreise sind stark gesunken, seit die Regierung in Neu-Delhi auf Druck der Welthandelsorganisation WTO den indischen Markt für stark subventionierte Produkte aus dem EU-Raum und den USA öffnete. Zugleich stiegen die Produktionskosten, da den Bauern teures genmanipuliertes Saatgut angepriesen wurde, das kaum die erhofften Früchte trug. Die Erzeuger verschulden sich zunehmend bei privaten Geldverleihern, da die Banken nicht ausreichend Kredite bereitstellen.
So wird der Weg in den Selbstmord gemeinhin dargestellt. Wienold erweitert den Fokus: Die Böden würden durch übermäßigen Einsatz mehrerer Pestizide, aber auch durch intensivierte Bewirtschaftung ausgelaugt. Das folge aus der sogenannten Realteilung, wonach nach dem Tod eines Vaters die Felder gleichmäßig unter den Söhnen aufgeteilt werden. Dadurch entstehen immer mehr weniger rentable Betriebe. Untragbar erscheine vor dem Freitod nicht die Verschuldung, sondern der Verlust der Kreditwürdigkeit, schreibt Hanns Wienold: „Wenn er nicht mehr leihen kann, ist der Bauer nicht nur ökonomisch, sondern auch als respektable Person im Dorf erledigt.“
Folgt man Wienold, wird südindischen Bauern auch die Konzentration auf nur ein Erzeugnis, etwa Baumwolle, zum Verhängnis. Im Norden des Subkontinents sicherten sich kleine Landwirte ein Auskommen, indem sie mehrere Erwerbsquellen haben. Viele Familien im gebirgigen Bundesstaat Himachal Pradesh überlebten trotz kultivierter Flächen von weniger als einem Hektar, weil ihre Söhne Geld überweisen, das sie in den größeren Städten der Region verdienen. Wienold belegt dies mit zehn Jahre alten Zahlen, was einer aktuellen Argumentation abträglich ist. Am Schluss des Kapitels notiert er, immer mehr Familien stiegen aus Tierhaltung und Landwirtschaft aus. Dadurch werde die Lage der Kleinbauern weniger prekär. Wie ist sie jetzt, zehn Jahre nach seiner Untersuchung? Der Leser erfährt darüber ebenso wenig wie über die Entwicklung einer Kooperative, die etwa 500 Frauen erfolgreich bewirtschaftet haben.
Agrarkooperativen erscheinen Wienold auch für die südindischen Baumwollbauern als Ausweg aus einer Not, die unter anderem aus dem stolzen Beharren auf dem Bestellen der eigenen Scholle folgt. Sie, immerhin „tausende von Selbsthilfegruppen“, erwähnt er aber bloß am Rande. Es hätte dem Buch gutgetan, hätte er zwischen trockenen Analysen und Zahlen Fallbeispiele eingeflochten. Die Not der Bauern würde damit anschaulicher. Die Lektüre bleibt oft unsinnlich, auch weil der Soziologe sich damit aufhält, abstrakte Begriffe wie „Semiproletariat“, „Kleinbauern“ und „doppelt freie Lohnarbeiter“ voneinander abzugrenzen.
Diese Lohnarbeiter sind sowohl frei von Landbesitz als auch frei vom Zugang zu Land. Meist haben sie keine feste Anstellung. Wienold fand sie zu Zehntausenden im Amazonasgebiet in Brasilien und nennt sie „die neuen Sklaven“. Es sind „nichtpermanente, frei flottierende Saisonarbeiter und Tagelöhner“, die in der industrialisierten Landwirtschaft im Nordwesten des südamerikanischen Landes bei der Herstellung von Holzkohle oder dem Kahlschlag der Regenwälder beschäftigt werden. Auf Zuruf, ohne Rechte, unter miserabler Bezahlung. „Sie bilden eine große Masse überflüssiger Arbeitskraft“, merkt Wienold an, und zugleich eben auch „Zulieferer für den Weltmarkt“. Dieser, entfesselt, wie er ist, bedient sich der billigsten Arbeiter, die er finden kann.
Auch in Brasilien gilt ein Bauer ohne Land wenig. Daher haben sich Landlose zusammengeschlossen, um in „acampamentos“ durch Großgrundbesitzer nicht genutztes Land zu besetzen. Die „Bewegung der Landlosen“ hatte durchaus Erfolg: Seit 1995 dürften rund eine Million Familien angesiedelt worden sein. Viele Kooperativen zerfielen wieder: Die Landeigner wünschten „Selbstständigkeit, die der bäuerlichen Vorstellung von Freiheit entspricht“. Jedoch reiche „ein Stückchen Land“ zum Überleben nicht aus, so Wienold, der im Kampf der Landlosen „die Antwort auf die neue Sklaverei“ erkennt. Er rät den Bauern entsprechend zu Gemeinschaft: „Die Vereinzelung muss überwunden werden.“ STEPHAN LOICHINGER
Hanns Wienold: „Leben und Sterben auf dem Lande. Kleinbauern in Indien und Brasilien“. Westfälisches Dampfboot, Münster 2007, 218 Seiten, 24,90 Euro