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■ Die neue Debatte um EU-Reform drückt sich um die zentrale FrageWofür ist die EU eigentlich da?

Nach dem kollektiven Rücktritt der EU-Kommission wegen Korruption üben sich alle Beteiligten im Herunterreden. „Schwamm drüber, alles wird gut“ lautet die Devise: Neue Leute sollen her, am besten welche mit mehr politischem Gewicht; die Kommission soll besser kontrolliert werden, das Parlament soll mehr Rechte erhalten, die gesamte institutionelle Struktur der EU irgendwie moderner, effizienter und bürgernäher werden.

Die Krise als Chance, heißt es in Bonn, und in London kursiert das Leitwort: Wer für Europa ist, muß für Reform in Europa sein. Es ist schon ein erstaunlicher dialektischer Prozeß. Bisher galten die Verteidiger der EU in ihrer existierenden Form als Proeuropäer, und die Kritiker der europäischen Institutionen waren antieuropäische Nörgler. Nun wird der Nachweis von Schwäche plötzlich zum Zeichen von Stärke umgedeutet. Das kann doch einen Europäer nicht erschüttern, so lautet die Botschaft. Aber überall sonst auf der Welt hat man sich längst von der Ansicht verabschiedet, daß die Geschichte eine Einbahnstraße sei und jedes Ereignis, sei es noch so düster, in Wahrheit zum ins Licht führenden immerwährenden Fortschritt gehöre. Diese aus vergangenen Jahrhunderten stammende Haltung aber macht eine offene Diskussion über Sinn und Unsinn des Ganzen unmöglich. Nur noch im Realsozialismus, den in seinem Lauf weder Ochs noch Esel aufhalten konnte, wurde sie zuletzt noch mit ähnlicher Hingabe gepflegt.

Tatsächlich ist in der sich abzeichnenden neuen EU-Debatte die Frage der Ochsen und Esel, wozu der ganze Verein eigentlich dient, zentral. Wer die europäische Integration befürwortet, müßte in der Lage sein, diese Frage ohne langes Nachdenken überzeugend zu beantworten. Aus dieser Antwort müßte sich dann ableiten lassen, was für eine Europäische Union nötig und wünschenswert ist. Die gesamte EU-Struktur muß jetzt von Grund auf hinterfragt und neu gedacht werden. Nichts des Bestehenden, vom zahnlosen Parlament über die undemokratische Kommissionsstruktur bis zum unausgereiften Euro, kann sich derzeit aus sich selbst heraus legitimieren.

Wer die jetzige Krise der Kommission nur als Anlaß zur Schadensbegrenzung sieht, verkennt das Ausmaß, in dem sie in der öffentlichen Meinung eine tiefe Krise der EU als Ganzes zu werden droht. Wer hofft, die Union brauche einfach einen frischen starken Chef und ansonsten werde sich schon alles richten, gibt ihr einen Gorbatschow, der Glasnost und Perestroika predigt, während um ihn herum alles zusammenbricht. Die Geschichtsbücher beweisen, wie eine solche Union enden kann. Dominic Johnson

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