„Die lassen uns eiskalt hängen“

Angst schlägt um in Wut/ Ostdeutsche sehen sich um Neuanfang betrogen/ Nicht Mielke oder Honecker sind gemeint, sondern „dieser komische Gomolka“/ Rostock vor dem Untergang  ■ Von Susanne Güsten

Rostock. Wie ein verzerrtes Echo aus Aufbruchszeiten klingt es: „Für den habe ich einen Strick mitgebracht, den knüpf' ich auf“, eifert eine etwa 40jährige Frau in der vordersten Reihe der Demonstration. Doch nicht Stasi-Boß Mielke oder SED-Chef Honecker sind diesmal gemeint, sondern „dieser komische Gomolka“, Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern. Seit zwei Monaten ist ihr Betrieb, ein von der Treuhand verwaltetes Hotel, geschlossen, seither hat sie weder Lohn noch Arbeitslosengeld bekommen — „nicht einmal das Kindergeld wird überwiesen“. Nun ist auch das Sparbuch leer und die blanke Existenzangst greift.

Beklommenheit mischt sich in die kämpferische Stimmung der 35.000 auf dem Rostocker Markt versammelten Menschen, die gegen den Abbau der ostdeutschen Werften protestieren, als die Frau in einer Grußadresse der Gewerkschaft NGG ihre Situation schildert. Noch sind die meisten hier in Lohn und Brot — doch am Freitag wird in der Treuhandanstalt über das Schicksal der beiden Rostocker Werften entschieden, von denen die ganze Stadt abhängt. Die Angst geht um in Rostock — und sie schlägt langsam aber sicher um in Wut.

„Wenn Neptun plattgemacht wird, dann gehen hier die Lichter aus“, sagt Gewerkschaftssekretär Mike Venima. Die Neptunwerft und die Warnowwerft beschäftigen derzeit noch 10.000 Menschen in Rostock, nicht mitgerechnet die Arbeitsplätze in den angeschlossenen Motoren- und Elektronikwerken. An jedem dieser Arbeitsplätze hängen nach Schätzungen der Landesregierung weitere sieben Beschäftigte in den Zulieferbetrieben, und von ihnen sind wiederum Gaststätten, Handel und Dienstleistung — kurzum alles — in Rostock abhängig. Der Schiffbau ist die einzige Industrie der Region.

Vor einem Jahr noch regierte der Optimismus auf den Werften und in der Stadt. Der Schiffbau galt im Gegensatz zu manch anderer Branche in der DDR als zukunftssicher, die Auftragsbücher waren gefüllt bis 1993. Das bestätigte der Bundestagskandidat Günther Krause den Schiffbauern noch kurz vor den Wahlen im Herbst: Die Werften seien gesichert. Inzwischen ist Krause Minister, und 22 Schiffbauaufträge sind gestrichen. Die Neptunwerft soll geschlossen oder bestenfalls mit der Warnowwerft zusammengelegt werden, insgesamt werden in Mecklenburg- Vorpommern 28.000 Arbeitsplätze im Schiffbau wegfallen.

„Kohl, Gomolka, Blüm und Krause — bleibt IHR doch arbeitslos zuhause“, fordern die Demonstranten auf Transparenten und immer wieder: „Helmut Kohl! Löse Deine Wahlversprechen ein!“

„Was uns vor allem erbost, ist, daß wir für dumm verkauft werden sollen“, sagt Neptun-Betriebsrat Hartmut Röver. Gewerkschaft, Betriebsräte und Belegschaften reden sich nicht ein, daß es einfach weitergehen kann mit den Werften wie bisher, wo allein die Materialkosten den Verkaufspreis eines Schiffes überstiegen.Die Demonstranten fordern nicht einfach Geld für ein Faß ohne Boden, sondern Zukunftsplanung für ihr Land. Ein Zukunftsinvestitionsprogramm für die Küstenregion, ein Werftenstrukturprogramm, Qualifizierungsmaßnahmen und Beschäftigungsgesellschaften sind die Forderungen, für die 35.000 der 200.000 Bewohner Rostocks auf der Straße stehen. „Wir wollen keine Almosen, wir wollen arbeiten“, betont Röver. „Und dazu muß man uns eine Chance geben.“ Der Verdacht, um diese Chance betrogen zu werden, treibt die Rostocker auf die Straße. Die Meldung vom drohenden Bankrott Leipzigs hat hier eingeschlagen wie ein Blitz: „Die lassen uns eiskalt hängen“, staunt ein Werftarbeiter und bezieht in das „wir“ alle Ostdeutschen ein. Das Kohlsche Wort, wonach es nach der Einheit niemandem schlechter gehen werde, wird auf der Kundgebung nur noch mit Johlen quittiert. Den stärksten Applaus erntet dagegen die Warnung eines Redners an Bonn, diese Demonstration markiere „den Beginn einer härteren Gangart“. Mit drohendem Unterton wird der Herbst 1989 beschworen. „Hier brennt die Luft“, charakterisiert ein Betriebsrat die Stimmung auf den Werften. „Ich kann nicht sagen, mit welchen Mitteln gekämpft wird, wenn das hier so weitergeht — aber daß gekämpft wird, darauf kann man sich verlassen.“ afp