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■ Die kulturell-politische Pathologie ItaliensZwei sich ausschließende Visionen der bürgerlichen Gesellschaft

Ausländische Beobachter scheinen zu kapitulieren. Desorientiert lassen sie jede Hoffnung fahren, in der politischen Landschaft Italiens irgendeinen vernünftigen Sinn zu entdecken. Tatsächlich scheint die Situation des bel paesen von außen betrachtet den Zuständen in einem Tollhaus zu gleichen. Ein harter Konservativer, ein Ökonom mit eisernen neoliberalen Überzeugungen, Lamberto Dini, steht an der Spitze eines Kabinetts von Fachleuten, das den Platz der populistischen Berlusconi-Regierung eingenommen hat. In einer geradezu paradoxen Verkehrung der Fronten eilt die Linke zur Unterstützung Dinis herbei, den sie zuvor, bis hin zum Generalstreik, bekämpft hat. Der Rechten vom „Pol der Freiheit“ hingegen, eigentlich der natürlichen Verbündeten Dinis, ist dieser lästig wie Rauch in den Augen. Sie sieht seine Regierung als Frucht einer Palastverschwörung, angezettelt unter der Führung des Präsidenten der Republik, getragen von der geschlagenen Linken und unterstützt von Umberto Bossi, dem Verräter. Und dennoch, dem Schein der Oberfläche zum Trotz: Hinter dem ganzen Irrwitz steckt Vernunft. Wenn sie auch schwer zu verstehen und noch schwerer zu erklären ist.

In den Krämpfen, die Italien von den Wahlen des 27. März bis zur Auflösung der Mehrheit des Rechtsbündnisses schüttelten, kam eine politische und kulturelle Pathologie zum Vorschein, über die nachzudenken sich lohnt. Was ein Schritt in die richtige Richtung hätte sein können, die Aufgabe des Verhältniswahlrechts, auf dem sich ein halbes Jahrhundert lang die Übermacht der Christdemokrasten gründete, hat den genau gegenteiligen Effekt gezeitigt. Dieser Schritt droht zum Instrument einer Konservierung zu werden, zum Geburtshelfer einer „zweiten Republik“, die der ersten zum Verwechseln ähnlich sieht. Wenn sie sich nicht als noch schlimmer herausstellt als ihre Vorgängerin, deren tausenderlei Laster sie geerbt hat, nicht aber ihre Tugenden. Und deren gab es nicht wenige. Denn die erste Republik war mehr als eine Kombination aus einem schurkischen Wahlrecht und einem dichtverzweigten System der Korruption.

Es ist schwierig, für alles, was geschah und noch weiter geschieht, den Zufall oder irgendein Mißgeschick verantwortlich zu machen. Das Mehrheitssystem hat damit offensichtlich nichts zu tun. Außer daß der unglückliche Kompromiß, der die Basis des neuen (halben Mehrheits-)Wahlrechts bildet – einer Regelung, die wahrlich dem Minotaurus gleicht –, die Zusammenballung prekärer Wahlallianzen begünstigt, Vorboten künftiger Raufereien und schließlichen Auseinanderfallens. Sicher: Es war ein grober Irrtum, eine gefährliche Illusion zu glauben, daß man nur das Wahlrecht ändern müsse, damit sich auf den Trümmern von Tangentopolis die zweite Republik erhebe.

Geblendet von der eitlen Hoffnung, schon gewonnen zu haben, wenn der Wähler die sauberen mit den schmutzigen Händen vergleicht, hat sich die „ruhmreiche“, von Achille Occhetto geführte Kriegsmaschine der „Progressiven“ in genau dieser Illusion gewogen. Die Progressiven weigerten sich, für ein Anti-Trust-Gesetz zu kämpfen, dafür, daß die Bestimmungen, die die Kontrolle der Fernsehkanäle regelten, abgeändert würden. Ihnen blieb nur, „Haltet den Dieb!“ zu schreien, nachdem Berlusconi in Begleitung des Postfaschisten Fini abkassiert hatte.

Was emphatisch als italienische Revolution gefeiert wurde, war in Wirklichkeit nur das Ende eines Regimes, herbeigeführt von den Schlägen dreier außerhalb des Systems handelnder Akteure: der Richter, der „Legen“ und der Bewegung für das Referendum zur Änderung des Wahlrechts. Aber die Illusion der Linken, alles den Richtern überlassen zu können ohne eine Bewegung oder eine Partei, die in der Lage gewesen wäre, das Wirken dieser drei Faktoren in das Projekt einer großen Reform zu übersetzen – sie ist die Erklärung des Patts, in dem sich unser Land befindet. Wir durchleben ein Stadium der Ungewißheit, dem sich sehr wahrscheinlich eine Restauration ohne Wenn und Aber anschließen wird. Während wir überzeugt waren, uns auf der Straße Richtung Westminster sicher vorwärtszubewegen, liefen wir Gefahr, uns in der Nähe der „Casa Rosada“, des argentinischen Präsidentenpalasts, wiederzufinden. Und statt in einem vollendeten liberaldemokratischen System sind wir dabei, im peronistisch-plebeszitären Sumpf zu landen.

Das spricht natürlich Bände über den Stand der Dinge bei uns. Italien war und ist immer noch kein normales Land. In anderen europäischen Ländern stehen sich in einem Ambiente gemeinsamer liberaler Werte die Linke und die Rechte gegenüber. Aber in Italien sind die liberalen Werte selbst Gegenstand der Konfrontation. Von daher erklärt sich das Gegenüber von liberaler Demokratie und Populismus, von Respekt gegenüber den Spielregeln und deren Verletzung, von Legalität und Illegalität.

Also: auf der einen Seite die Steuerhinterzieher und auf der anderen die armen Trottel, die ihre Steuern bis zum letzten Pfennig bezahlen, selbst wenn sie's nur gezwungenermaßen tun; die tiene famiglia und die, die gewissenhaft arbeiten; die, die bei Rot anhalten, und diejenigen, die die Knöllchen mit Hilfe irgendeines Freundes verschwinden lassen; die Erzitaliener und die normalen Bürger, die daran interessiert sind, daß sich ein System moderner und rationalisierter sozialer Beziehungen festigt. Und umgekehrt diejenigen, die die Anarchie vorziehen, die vielleicht vitale, aber ganz sicher brutale Deregulation all'italiana. Sicher, auch bei uns existiert wie in allen europäischen Staaten eine Zweidrittelgesellschaft. Nur daß die italienische Version spezifische, anormale Merkmale aufweist. Tatsächlich gehören zur Minderheit nicht nur die sozial Schwachen und Ausgebeuteten, sondern diejenigen, die sich loyal gegenüber dem Staat verhalten. Der antikommunistische Appell von Berlusconi, der heilige Schrecken vor einem möglichen Machtantritt der Linken ist nur Ausdruck der Angst. Angst davor, daß die öffentliche Hand Respekt vor den Gesetzen erzwingt, daß sie schließlich auch bei uns die Bürger wenn nicht gleich, so wenigstens weniger ungleich behandelt.

Deshalb fürchte ich, daß diejenigen, die für die Initiative des katholischen Ökonomen Romano Brodi, eine Mitte-links-Regierung zu bilden, ins Feld gezogen sind, scheitern werden. Ich fürchte, die Hoffnung wird trügen, das politische System Italiens werde sich dem europäischen Standard angleichen. Daß es endlich in zwei Lagern organisiert sein könnte, die sich politisch konfrontieren, aber geeint sind durch gemeinsame Werte. Vieles weist indes darauf hin, daß auch die nächsten Wahlen von der Auseinandersetzung zweier unvereinbarer „Weltbilder“ geprägt sein werden, wo die Rechts-links-Unterscheidung wenn nicht unterdrückt, so sicher relativiert und damit in ihrer Bedeutung transfiguriert werden wird.

Auf der einen Seite werden sich die Freunde der liberalen Demokratie versammeln, auf der anderen Seite deren Gegner. Auf der einen Seite die Anhänger der Integration in Europa, diejenigen, die eine weniger ungerechte Gesellschaft wollen, wo Verdienste und Bedürfnisse gleich viel zählen. Auf der anderen Seite die Galaxien der Euroskeptiker, die einer „mediterranen“ und protektionistischen Bestimmung Italiens das Wort reden, einem Land, reich an Inflation und Streuung von Wohltaten, grausam gegenüber den Schwachen, aber servil gegenüber den Mächtigen. Auf der einen Seite diejenigen, die glauben, daß Toleranz nicht nur ein hoher Wert ist, sondern zugleich Voraussetzung jeder zivilen Auseinandersetzung. Auf der anderen Seite die Gesalbten des Herrn, die aus dem Mehrheitssystem eine Religion machen, die, vom Geist des Gekreuzigten durchdrungen, zum heiligen Krieg gegen die Ungläubigen aufrufen.

Es handelt sich hier um eine Auseinandersetzung „zweier Bourgeoisien“, bei der die Linke vernünftigerweise nicht umhin kann, Stellung zu beziehen. Anderenfalls bliebe nur, sich auf den Aventin zurückzuziehen, wie es die „Nostalgiker des Kommunismus“ getan haben, und sich von nichts, was da kommen möge, berühren zu lassen. Vor allem nicht zu beachten, daß die Linke zu Beginn der 20er Jahre einem ähnlichen, fatalen Irrtum verfallen war, dessen Ausgang – der Siegeszug und die Konsolidierung der faschistischen Macht – uns bestens bekannt ist. Angelo Bolaffi

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