: „Die Zeit nicht als Heiligtum festschreiben“
■ Hermann Schwarz, pensionierter Oberschulrat, im taz-Interview über die volle Halbtagsgrundschule in Hamburg
taz:Sie sind ein sehr aktiver pensionierter Oberschulrat und gelten in Hamburg als heimliche Autorität in Sachen Grundschul-Reform. Wie stehen Sie zur vollen Halbtagsgrundschule, die ja heute Gegenstand einer öffentlichen Anhörung in der Bürgerschaft sein wird?
Hermann Schwarz: Ich hielte es für sehr bedauerlich, wenn diese Reform zum Kippen kommt. Ich glaube, daß die Schulsenatorin mit der Halbtagsgrundschule zwei Dinge geleistet hat. Erstens: ein großes familien- und bildungspolitisches Signal zu setzen und zweitens zu erkennen, daß sie dies jetzt tun muß, weil es in Zukunft noch schwieriger würde. Nur ist es tragisch, daß es ihr nicht möglich war, dies mit ausreichender Ausstattung zu tun.
Wo liegt der Schwachpunkt?
Es ist ein Fehler, bei der „Verläßlichkeit“ von Schule vorrangig die Dauer der Schulvormittagszeit von 8 bis 13 Uhr im Auge zu haben. Viel wichtiger für jedes Kind ist die Verläßlichkeit der menschlichen Zuwendung, und die ist abhängig von der Gruppengröße. Aber wenn die tägliche Schulzeit als Heiligtum festgeschrieben wird, geht das auf Kosten der pädagogischen Qualität. Wenn mehrere Lehrer fehlen, müssen die Klassen zusammengelegt werden. Das kann man mal machen, aber nicht dauerhaft.
Aber es gibt eine Vertretungsreserve im Plan der Senatorin.
Die leider viel zu gering ist. Schon in Niedersachsen, wo die Halbtagsschule bereits Praxis ist, berichten Pädagogen von diesem Problem. Nur gibt es dort 16 Vertretungsstunden für 8 Klassen. In Hamburg soll es nur die Hälfte sein.
Was also tun?
Die Bürgerschaft müßte die Reform nachbessern. Ein Minimum wäre die Verdoppelung der Vertretungsreserve von 80 auf 160 Stellen. Auch müßte die Klassenfrequenz von 26 auf 24 und später 20 gesenkt werden. Und es müßte Schulen erlaubt sein, in Notfällen eigne Lösungen zu finden.
Was heißt das?
Es muß erlaubt sein, in Notfällen die Vormittagszeit zu kürzen, um die Qualität zu sichern. Wobei die Behütung von Kindern zu gewährleisten ist, die anders nicht versorgt wären. Wir müssen mit der Legende aufräumen, daß Unterricht als solcher schon förderlich ist.
Wo liegen ihrer Einschätzung nach die Chancen dieser Reform?
Die zeitliche Festschreibung ist eine Herausforderung für die Schulen, die immer noch im 45-Minuten-Takt arbeiten. Ohne rhythmisierten Tagesablauf, eine Gestaltung des Vormittags, die den Möglichkeiten der Kinder entspricht, geht es gar nicht. Es muß morgens eine Anlaufphase geben, einen Morgenkreis, eine Frühstückspause, ein Bewegungsspiel und einen Ausklang des Vormittags.
Wie erklären Sie sich die große Ablehnung in der Lehrerschaft?
Aus vielen Gesprächen weiß ich, daß eine kleine Gruppe die Reform begrüßt. Dem steht eine sehr große Gruppe der Ablehnung gegenüber. Darunter sind sehr engagierte und kompetente PädagogInnen, die in den letzten 20 Jahren die Grundschulpädagogik vorangebracht haben. Es ist falsch, wenn Politiker vermuten, die Lehrer sagten ,nein', weil sie nicht kreativ genug sind, sich auf etwas Neues einzustellen.
Warum dann?
Neben der Kritik an den unzulänglichen räumlichen und personellen Bedingungen verstehen viele KollegInnen nicht, warum man ihren Sachverstand nicht vorher einbezogen hat. Man muß diese Abwehr aber auch vor dem Hintergrund der Schulgeschichte sehen. In der Grundschule sind die jüngsten und bedürftigsten Kinder in der heterogensten Gruppe versammelt. Für sie ist eine besonders subtile Pädagogik notwendig, die anspruchsvollste überhaupt. Und zugleich wurde diese Schulstufe von Gesellschaft und Politikern nie ihrer grundlegenden Bedeutung angemessen ernstgenommen, arbeitet sie mit dem wenigsten Personal überhaupt. Hinzu kommt, daß jetzt auch Grundschullehrer eine 28. Stunde unterrichten müssen. Das bedeutet ein Weniger an Energie für all das, was Unterricht gut macht. Fragen: Kaija Kutter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen