■ Die Wirtschaft beherrscht immer mehr die Gesellschaft. Plädoyer für einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz: Der Zerfall des Politischen
Das zerrissene Band der Gesellschaft trägt heute viele Namen: Massenarbeitslosigkeit und wachsende Armutsrisiken, schleichende Ökokatastrophen und Staatsverschuldung auf Kosten kommender Generationen, Videomalaise und Wissenskluft. Die Gleichgewichte sind gestört ohne Aussicht auf befriedigende Gesamtordnungen.
Wenn Politiker zu Sparkommissaren werden, zerfällt die Politik. Ministerpräsidenten reden – außer sonntags – wie Unternehmer und Manager. Der Unterschied zwischen Wirtschaft und Politik verschwindet. So erleben wir derzeit die Abschaffung von Politik, die nur dann ihren Zweck erfüllt, wenn sie sich nicht aus den Imperativen eines Teilsystems, sondern aus Vermittlungen und Gesamtverantwortung ergibt.
Wozu hat sich denn die Gesellschaft in Politik, Wirtschaft, Kultur und andere Funktionsbereiche ausdifferenziert? Um Freiheit und Effizienz zu ermöglichen. Doch nicht, um sich dem Diktat eines dieser Teilsysteme zu unterwefen, sondern um Gegengewichte zu mobilisieren, wenn ein Teil versucht, sich zum Ganzen zu erheben. Und das gilt gegen kulturellen Fundamentalismus ebenso wie gegen ökonomischen Absolutismus.
„Eindimensionale Gesellschaft“ hieß die Kritik an der durchökonomisierten Gesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre. Sie gilt noch immer. Nur daß die Alternative nicht mehr Sozialismus oder befreite Gesellschaft heißt, sondern Kapitalismus mit menschlichem Antlitz.
Doch eine Gesellschaft, in der Konsens zum Kostenfaktor gemacht wird, verliert ihre Balance. Konsens ist der schmale nicht-kontroverse Sektor, der erhalten werden muß, wenn die pluralistische Demokratie und die offene Gesellschaft überleben sollen.
Wie weit haben wir uns von den Normen der frühen Bundesrepublik entfernt, als der Demokratietheoretiker Ernst Fraenkel von Gemeinwohl nur sprechen wollte, „wenn ein Ausgleich angestrebt und erreicht wird, der objektiv den Mindestanforderungen einer gerechten Sozialordnung entspricht und subjektiv von keiner maßgeblichen Gruppe als Vergewaltigung empfunden wird“. Das war der erste Damm, das Gruppengleichgewicht. Bricht er, zum Beispiel wegen der strukturellen Schwäche der Gewerkschaften, kann die Gesellschaft nur noch auf ein Gleichgewicht der Teilsysteme hoffen. Dies ist der zweite Damm. Danach beginnt die Überschwemmungskatastrophe.
Faktisch ist unsere Gesellschaft immer eine Wirtschaftsgesellschaft. Aber derzeit scheint sie es auch normativ zu werden. Dagegen muß die Politik (die als jene Sphäre definiert ist, die jeden Teilbereich in seine Schranken verweisen kann) einschreiten. Vorausgesetzt, sie behält so viel Autonomie, daß sie imstande ist, zwischen Gruppeninteressen und Ansprüchen der Funktionsbereiche abzuwägen und zu entscheiden. Nur dann verdient sie den Namen Politik.
Das Gegenbild zu dieser Wirtschaftsgesellschaft, die durch das ökonomische Teilsystem beherrscht wird, ist die Bürgergesellschaft. In ihr wird Politik wiederhergestellt und das außerökonomische Engagement gestützt. Die Bürger, so zeigen Untersuchungen, sind dazu bereit – allerdings nur, wenn sie nicht zu nützlichen Idioten des ökonomisch-administrativen Komplexes gemacht werden.
Es geht also um die „Rettung des Politischen“, es geht um eine Gleichgewichts- und Gegenmachtpolitik gegen Radikal-Ökonomisierung. So kann das Soziale nicht nur die abhängige Variable der Ökonomie sein. Wenn die Erwerbsarbeit ausgeht, reicht sie als Fundament des Sozialen nicht aus. Das Soziale bleibt an die Wirtschaft(skraft) gekoppelt, aber ohne Vorstellungen von Gerechtigkeit, der Entfaltung in Arbeit, wünschenswerten Sozialbeziehungen sollte man es, der Deutlichkeit halber, gleich zur Unterabteilung im Wirtschaftsministerium machen. Grundsicherung und Umverteilung von Arbeit bekämpfen negative Folgen, ohne die Wirkungsweise des Marktes zu beeinträchtigen.
Kultur ist nicht das Rettende, aber sie kann helfen bei der Begrenzung des gesellschaftlichen Schadens, den andere Teilsysteme anrichten. Zum Beispiel der Kommunitarismus, ein aufgeklärtes Gemeinschaftsdenken, das sich auf dem Boden moderner Gesellschaft entwickelt. Nicht als Kompensation hingenommener Ungleichgewichte, sondern als Kraft der Gegensteuerung. Gegen die Durchsetzung des Homo oeconomicus, das atomisierte, unentwegt Nutzen kalkulierende Individuum, in allen Lebensbereichen. Gegen einen Individualismus, der nur nach Steigerung von Optionen, nicht nach freiwilliger Bindung und Verantwortung fragt.
Mehr als zwei Drittel der Bürger bejahen ein Statement wie: „Die soziale Kälte in unserer Gesellschaft empfinde ich als bedrohlich.“ Nicht der Pseudokommunitarismus der Besserverdienenden ist gemeint, mit steuerbegünstigten Spenden und der moralischen Entlastung, die eine Steuersenkungs- und Zugewinnpartei eben bieten muß. Alles im Verhältnis von 51:1 – 51 Wochen Wirtschaftskampf aller gegen alle, 1 „Woche der Brüderlichkeit“. Vielmehr gerechte Lastenverteilung, Engagement und Verantwortung von Bürgern, die sich nicht in Randbereiche abdrängen lassen.
Es gibt in der modernen Gesellschaft bestenfalls prekäre Gleichgewichte. Das Überschreiten einer unsichtbaren Grenze führt zum Kippen des Gesamtsystems. Könnte es sein, daß sich dagegen eine neue Mehrheit bildet, rekrutiert aus allen politischen Lagern? Das Parteiensystem ist nicht in der Lage, eine solche, quer durch alle Formationen laufende Übereinstimmung auszudrücken. Alternativen, die hier scheitern, bedeuten aber nicht das Ende von Alternativen.
Gleichgewichtspolitik hat nichts mit Versöhnungsgesellschaft zu tun. Sie setzt der Polarisierung und Einschüchterung der Regierenden ein Programm der Gegenpolarisierung und Ermutigung entgegen. Ihre Anhänger akzeptieren das bestenfalls labile Gleichgewicht als Preis für die Freiheiten moderner Gesellschaft. Aber unterhalb dieses Niveaus ist es nicht ihre Gesellschaft.
Im Sozialismus versuchte die Politik, sich die Wirtschaft zu unterwerfen – beide scheiterten. Im Kapitalismus heißt die Versuchung: Die Ökonomie schafft die Politik ab. Auch dieser Weg führt ins Desaster. Noch sind Wirtschaftsprofessoren nicht die einzigen, die als Bundeskanzler in Frage kommen. Joachim Raschke
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