Die Wirklichkeit des Medienkanzlers : KOMMENTAR VON RALPH BOLLMANN
Was wurde nicht alles spekuliert über das geheimnisvolle „Dossier“, das Bundeskanzler Gerhard Schröder für den Bundespräsidenten anfertigen ließ und das am kommenden Dienstag auch die Karlsruher Verfassungsrichter von der Notwendigkeit vorgezogener Neuwahlen überzeugen soll. Kritiker des Kanzlers würden dort „denunziert“, wusste PDS-Gastkandidat Oskar Lafontaine zu berichten. Selbst SPD-Chef Franz Müntefering müsse sich „Attacken“ gefallen lassen, schrieb ein Magazin.
Wer das Konvolut gelesen hat, ist zu solcher Erregung nicht mehr fähig, sondern nur noch zu einem ziemlich lauten Lachen. Die angebliche „Denunziation“ besteht hauptsächlich aus einer Zusammenstellung von Pressestimmen. Da schwadronieren Leitartikler über „verlorenes Vertrauen“, Grünen-Politiker kritisieren Schröders Russlandpolitik, Müntefering krittelt ein wenig am Koalitionspartner herum. Das Übliche also.
Der Kanzler ist am Ende, die Koalition zerstritten: Das schrieben die Zeitungen schon während der Ära Kohl mit großer Regelmäßigkeit. Auch das Hamburger Nachrichtenmagazin, dessen Titelgeschichten in dem „Dossier“ reichlich vertreten sind, pflegte zu allen Zeiten eher selten sein volles Vertrauen zur Regierung zu bekunden. Zugegeben: Zu Schröders besten Zeiten erschien auch mal die eine oder andere Jubelarie auf den „Reformkanzler“.
Ein schlimmer Verdacht drängt sich auf. Der Verdacht, dass der Medienkanzler Schröder an sein dürres Dossier wirklich glaubt. Dass er und seine wenigen Vertrauten hinter den Betonwänden von Kanzleramt, Bundestagsbüros und SPD-Zentrale für die Wirklichkeit hielten, was doch nur die Meinung von Leitartiklern war. Dass sie den Unterschied nicht bemerkten zwischen dem Vertrauen im Parlament, von dem das Grundgesetz spricht, und dem Beifall der Medien, an dem sich Schröder anders als sein Vorgänger Kohl so lange berauschte.
Die groteske Verwechslung legt eine zweite Vermutung nahe. Die Vermutung, dass Schröder am 22. Mai wirklich geglaubt hat, er könne mit seinem Neuwahl-Coup das Blatt noch einmal wenden. Auch das war ein Konstrukt. Die Wirklichkeit sieht anders aus.