: „Die Welt ist ein Chaos, ein einziger Bruch“
GEGENWART Der Schriftsteller Clemens Meyer spiegelt die Wirtschaftswelt am Beispiel der Sexindustrie: ein Gespräch über seinen apokalyptischen Roman „Im Stein“
■ 1977 in Halle geboren, lebt heute in Leipzig. Seine Biografie verzeichnet Jobs als Wachmann, Gabelstaplerfahrer und Bauarbeiter sowie den Besuch des Leipziger Literaturinstituts. Sein Debüt „Als wir träumten“ machte ihn 2006 gleich bekannt.
■ „Im Stein“ erscheint im Fischer Verlag. Der Roman hat 559 Seiten und kostet 22,99 Euro.
INTERVIEW JENS UTHOFF
taz: Herr Meyer, sind Sie erleichtert?
Clemens Meyer: Warum?
Weil Sie Ihr bislang umfangreichstes Werk abgeschlossen haben.
Ja, es ging schon an die Substanz. Es ist in der Tat das umfangreichste Werk, zum einen vom Zeitraum, den es behandelt: 20 Jahre etwa, von der Wende bis zur heutigen Zeit. Und ich habe auch am längsten daran geschrieben, seit 2008 saß ich dran.
Ist es stilistisch Ihr radikalstes Buch?
Es ist ein Roman, der permanent von Brüchen lebt. Von dem Vorgänger „Gewalten“ ist es aber stilistisch nicht so weit weg. Aber du musst dich mit jedem Buch neu erfinden. Man will auch für jedes Buch eine neue Herausforderung.
Ist es Ihnen wichtig, sich in Inhalt und Stil von vielen Ihrer alten Kollegen des Leipziger Literaturinstituts abzuheben?
Ich habe deren Werke in den letzten Jahren nicht mehr so verfolgt, das kann ich nicht beurteilen. Stilistisch ist mir manches in der Gegenwartsliteratur zu zahm. Bei einem Buch muss ich merken, da ist ein Ton, da ist ein Sound, der die Zeit trifft. Oft finde ich die Handlungen zu stringent erzählt. Wo sind die Brüche unserer Welt? Mir fehlt die Idee einer Avantgarde – und zwar als Leser. Wir leben ja in einer ähnlichen Situation wie in den 1920er-Jahren, seit die neuen Medien auf uns einbrechen. Die Welt ist ein einziges Chaos, ein einziger Bruch. Das Internet hat auf seltsame Art und Weise Macht von uns ergriffen, das Geld fließt so vor sich hin, darauf versuche ich stilistisch zu reagieren.
Hat sich Ihre Sichtweise auf das Netz denn verändert?
Ja, ein bisschen schon. Es ist wie ein Big Brother, den wir selbst erschaffen haben. Keiner braucht sich über die NSA aufzuregen. Wir stellen unsere Daten selbst ins Netz, man öffnet sich der Ausspähungsarbeit. Ist doch klar, dass Geheimdienste das nutzen. Alle positiven Seiten haben auch einen negativen Gegenpart. Ich bin aber generell altmodisch. Ich glaube an die Bibliotheken, ans Papier, an die Bücher.
Ändern sich Schreibweisen durch die Dominanz des Internets?
So etwas wie Bewusstseinsströme gab’s schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Ich glaub’s eigentlich nicht. Für mich ist das Netz vor allem Inspiration. Eine Passage im Roman etwa ist komplett aus dem Internet übernommen, wo Leute in Foren über den Berliner Abou-Chaker-Clan schreiben. Die lassen sich da aus, in einem Deutsch, das der Wahnsinn ist. In einem Kapitel erfinde ich einen Radiosender nur für den Sexmarkt. Dafür bin ich viel in Freier-Foren herumgesurft, die sich über Sexerlebnisse austauschen: „Wo krieg’ ich’s denn am billigsten?“ Völlig enthemmt. Das war schon interessant.
Damit sind wir beim Thema Ihres Romans. Zu einem großen Teil besteht der aus Schilderungen von Figuren, die mit der Sexindustrie zu tun haben.
Ich habe jahrelang das Leben von Prostituierten beziehungsweise Sexarbeiterinnen beobachtet. Aber diese inneren Monologe habe ich mir alle ausgedacht. Ich habe nie Fragen gestellt.
Sie haben gar keine Interviews geführt?
Nein, ich habe immer darauf gehört, was erzählt wird. Man ist in einem Club ins Gespräch gekommen. Ich glaub, ich bin ein ganz guter Menschenimitator. Aber da hab ich ewig dran gearbeitet, diesen Sound zu finden – den Slang, den die da sprechen. Ich war wie ein Schwamm, der das alles aufsaugt. Und es gibt auch viele Bücher, die Prostituierte geschrieben haben, dort kriegt man Details und Informationen.
Das Ansehen von Sexarbeit ist gerade ein großes gesellschaftliches Thema.
Was mich an der Debatte stört, ist, dass alles über einen Kamm geschoren wird. Jede Prostituierte hat eine eigene Geschichte; es wird ja häufig so getan, als hätten wir 99 Prozent Zwangsprostituierte hier. Ich glaub nicht, dass es annähernd 50 Prozent sind, das weiß ich eigentlich auch. Jede einzelne davon ist zu viel, das ist klar. Aber es gibt zum Beispiel in Leipzig Leute, die sich bemühen, ein Bordell zu betreiben, in dem man ganz sauber arbeitet. Wo man nicht will, dass Frauen dort unter Druck arbeiten. Aber Druck, was ist das?
Erzählen Sie’s uns.
Ich bin eine Zeit lang in Deutschland viel in solche Etablissements gegangen, in vielen Städten. Ich bin da hingegangen, hab mein Geld versoffen, weil mich das interessiert hat. Aber zum Thema Druck: Seit Ungarn vor ein paar Jahren fast bankrott gegangen wäre, hat die Zahl der ungarischen Sexarbeiterinnen zugenommen. Das ist doch das Entscheidende: Die werden nicht hierher geschleust, sondern kommen her, um Geld zu verdienen. Weil die da bettelarm sind. Das ist auch Druck.
Auch Kinderprostitution kommt in Ihrem Roman vor.
Die Schattenseiten werden nicht verschwiegen. Aber das ist nicht das Hauptthema. Es gibt im Prinzip kein Hauptthema in dem Buch.
Sie versuchen, die Wirtschaftswelt anhand dieser Branche zu erklären – und dazu haben Sie auch Klassiker gelesen, wie man aufgrund der Einschübe vermuten darf.
Sie meinen „Das Kapital“? Ja, das habe ich nicht ganz gelesen, aber da habe ich mich durchgequält und habe Passagen angestrichen, die sich gut auf den Sexmarkt beziehen lassen. Es ist Wahnsinn, wie Marx die Wirtschaft seziert hat – man kann Dinge heute lesen und sieht: Es ist einfach so. Erklärungsmuster für Aktien, Banken. Die Frage, was Arbeitswerte, was Gebrauchswerte sind. Es ist mir unbegreiflich, wie ein Mensch so eine Leistung vollbringen kann, was der da hinter seinem dichten Bart ausgebrütet hat.
Sie zeichnen in Ihrem Roman ein apokalyptisches Bild der neoliberalen Ära?
Eigentlich ja, es ist ein Wirtschaftskrieg, der da tobt. Es ist ein Spiegelbild der Gesellschaft am Beispiel der Sexindustrie. Der Fluss des Geldes dort. Ich beschreibe ja, wie in den Neunzigern die Ostdeutschen noch BWL studieren und an ihren Geschäftsideen basteln – New Economy und so –, bis sie irgendwann in der Wirtschaftskrise landen.
Seither haben sich die Märkte verschoben.
Ja, ich habe das Gefühl, dass wir in einer grenzenlosen Zeit leben. Der Kalte Krieg hat die Dinge eingegrenzt, im Negativen, aber das war eben so. Die 90er waren die Umbruchszeit und seit den Nullerjahren leben wir in einer völlig haltlosen Welt. Das Kapital ist außer Rand und Band geraten – aber das Buch ist natürlich auch eine bewusst apokalyptisch gezeichnete Welt.
Sie haben unsere Zeit bereits mit den 1920ern verglichen. Hat unsere Zeit vom Grundgefühl auch etwas von den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg?
Historisch war es natürlich eine völlig andere Situation, aber es war eine ähnlich chaotische Konstellation. Aber was sollte jetzt denn kommen? Derzeit wäre es die Gefahr, dass Terroristen mit nuklearen Sprengköpfen für eine Katastrophe sorgen. Aber mittlerweile habe ich das Gefühl, auch davon würde man sich schnell erholen. Katastrophen jedweder Art scheinen schnell überwunden. Fukushima hat jetzt auch nicht für allzu langes Innehalten gesorgt. Es kennzeichnet das Heute, dass man alles schnell wieder vergisst.
Politisch kennzeichnet diese Zeit bei uns in Deutschland …
… vollkommene Stagnation. Ich dachte ja immer, ein guter, großer Sozialdemokrat würde kommen, aber es gibt keinen.
Ich würde gern noch über Ihre Arbeitsweise, über Sie als Figur im Literaturbetrieb sprechen.
Ich hab doch die letzten Jahre gar nicht stattgefunden.
Zu „Gewalten“ aber waren Sie doch noch sehr präsent, und dann haben Sie Theaterstücke geschrieben.
Ja, die Stücke haben aber keinen interessiert. „Sirk the East“ hab’ ich für das Centraltheater in Leipzig geschrieben. Das war meine beste Zeit. Eine Talkreihe haben wir dort auch veranstaltet, da habe ich mit Gästen über absurde Themen gesprochen. Der Theaterbetrieb ist ganz anders als der Literaturbetrieb.
Inwiefern?
Für mich fühlt sich das anders an, weil ich im Literaturbetrieb nicht so gut vernetzt bin; nur, wenn ich ein neues Buch habe, dann wirbel ich da durch.
Im Literaturbetrieb verteilen Sie immer mal Seitenhiebe in Richtung Daniel Kehlmann. Ist der Ihr Lieblingsfeind?
Grundsätzlich: Ich habe überhaupt nichts gegen Kehlmann. Es ist nur nicht meine Art von Literatur. Seine Bücher sind doch auch erfolgreich – soll er doch machen. Ich hab mal so ’ne Rede zu Brecht von ihm gehört, die fand ich daneben: Brecht, der böse Kommunist. Das muss man doch im historischen Kontext sehen. Oder seine These „Wider das Regietheater“, die ist für mich unverständlich. Kunst muss weh tun.
Sie mögen Regietheater?
Modernes, kontroverses Theater, das Stoffe bricht, ist gut. Wir hatten etwa „Faust“ ohne ein gesprochenes Wort. Nur mit Grunzen und Quieken und so. Ich war erst skeptisch, aber das war gut.
Sie werden oft als der literarische Outsider mit seinen Tattoos unter dem Jackett dargestellt. Nervt Sie das?
Da sage ich mir, Augen zu und durch. Ich will meine Bücher beurteilt wissen. Deshalb freut’s mich, wenn Leute mal über Literatur mit mir sprechen wollen, weil das häufig zu kurz kommt. Und die Klischees nerven mich trotzdem.
Was lesen Sie gerade?
Büchner, Lenz. Das ist toll.