Die Wahrheit: Die Rente mit 93 kann kommen!
Wahrheit exklusiv: Auf Tour mit Deutschlands erstem staatlich geprüften Longlife-Body-Coach. Ein Pilotprojekt des Gesundheitsministeriums.
Bevor es zum Schlimmsten kommt, hat Tim Jensen seine Zielperson vor einem Café im Zentrum Berlins aufgespürt. Nach olympiareifem Vollsprint und beherztem Absprung hechtet er wie ein junger Tennisgott durch die Lüfte.
Gerade als sich ein Mitvierziger im quietschbunten Joggingoutfit das süße Donauwellenstück als Ganzes genüsslich in den Schlund schieben will, schlägt der gelernte Fitnesstrainer ihm die todbringende Kalorienbombe samt dreifach Extrasahne aus der Hand. Eine Judorolle später steht Jensen wieder auf den Füßen und scheucht seinen schwach gewordenen Schützling mit energischen „Los! Los! Los!“-Rufen wieder zurück auf die widerrechtlich unterbrochene Zehnkilometerrunde.
Der 30-Jährige, den wir heute während seiner Sechzehnstundenschicht beim Kampf gegen falsche Ernährung und Bewegungsmangel begleiten dürfen, ist Deutschlands erster staatlich geprüfter Longlife-Body-Coach.
„Alles fing damit an, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Deutschen und besonders der Berliner im europäischen Vergleich auf den vorletzten Platz zurückgefallen ist“, erinnert sich Jensen. Daraufhin habe das Bundesgesundheitsministerium in einem Pilotversuch einen motivierten und belastbaren Personal Trainer für die fast vier Millionen Hauptstadtbewohner gesucht.
Urkunde von Lauterbach
„Noch am Tag meiner Bewerbung habe ich von Karl Lauterbach persönlich meine Ernennungsurkunde erhalten“, freut sich der Marathon laufende, nichtrauchende Vegetarier noch immer über sein unverhofftes Karriereglück. In dem auf vier Jahrzehnte ausgelegten Pilotprojekt, das die Anzahl der Hundertjährigen im Stadtgebiet bis 2063 verzehnfachen soll, bevor die Kampagne auf das gesamte Bundesgebiet ausgeweitet wird, gibt es für den gertenschlanken Beau genug zu tun.
„Trainings- und Diätpläne überwachen, engmaschig Observieren und Risikofaktoren so gut wie möglich ausschalten“, leiert Jensen sein Mantra für die Prävention von todesursächlichen Herz-Kreislauf-Erkrankungen herunter. Die Liste der Risikopatienten, die Jensen betreut und unter denen sich auch Prominente und Spitzenpolitiker aller Parteien befinden, ist gewaltig. Wie aufs Stichwort wird der Ex-Triathlet von einem plötzlichen Alarmton aufgeschreckt und kramt nervös sein Diensthandy aus der Tasche. Auf dem Display wuseln Hunderte von kleinen Pünktchen über einen digitalen Stadtplan. Eines hat sich tiefrot verfärbt und warnt, unterlegt mit einem kritischen Live-Leberwert, vor potenziell schwerwiegenden Gesundheitsschäden.
„Mist!“, flucht die Sportskanone. „Offenbar ist Wolfgang Kubicki heimlich vom Ergometer gestiegen und von seiner Privatwohnung aus zu einer ausgiebigen Kneipentour aufgebrochen.“
Jensen muss sofort handeln. Da wir mit seinem Tempo ohnehin nicht mithalten können, gondelt uns der eilige Wohlfühl-Guru in einer Rikscha durch die Hauptstadt. Als wir nach wildem Ritt das „Immer uff“ in Charlottenburg erreichen, ist Kubicki schon weitergezogen. Auf der Herrentoilette der Szeneschenke finden wir nur noch seine abgestreifte Fitnessfußfessel, ein paar hastig bis zur Hälfte durchgerauchte Zigarillos und eine leere Mariacron-Flasche vor. Da der Bundestagsvize sich jetzt irgendwo in einer der 900 anderen Berliner Kneipen befinden könnte, beschließt Jensen, die Suche abzubrechen und dringend notwendige Hausbesuche zu erledigen.
Nach mehreren Kühlschrank-Routinekontrollen in Pankow und Köpenick, dem Anbringen von Nikotinrauchmeldern in Neukölln und Spandau und einer dunkelgelben Verwarnung wegen der gemeingefährlichen Nutzung einer Pommesfritteuse wirkt der Übungsleiter ein wenig erschöpft.
CSU im Brathendl-Rausch
Jensen taumelt aus dem Treppenhaus eines 30-stöckigen Wohngebäudes, als sein Mobiltelefon erneut eine verdächtige Bewegung meldet: Die Brathendl-Gruppe der CSU-Bundestagsfraktion unter der Leitung von Alexander Dobrindt ist scheinbar rückfällig geworden und unternimmt einen Versuch, sich dem Hofbräu-Wirtshaus am Alexanderplatz in eindeutiger Genussabsicht zu nähern. Der leichenblass gewordene Dauerläufer tupft sich mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. Vor der Weiterfahrt gönnt er sich gleich mehrere Sprühstöße Asthmaspray. Als wir mit mächtig Verspätung auf dem Alexanderplatz eintreffen, müssen wir die bereits vollgefressene und vor Cholesterin nur so strotzende Bayern-Combo hilflos an uns vorüberziehen lassen.
Doch es wird noch wilder. Als Jensen von einem anonymen Tippgeber erfährt, dass Kubicki die Räumlichkeiten des „Feministischen Kollektivs“ betreten hat, um dort seine Schweinshaxe zu essen und anschließend in Ruhe eine Havanna zu paffen, ist es des Guten zu viel. Der noch vor wenigen Stunden knackfrisch umherhüpfende Jungspund kollabiert vor unseren Augen.
Bevor der Sanitäter zehn Minuten später die Türen des Rettungswagens schließt, winkt Jensen uns noch mal zu sich heran. Seine gehauchte Bitte, ihn während seines vorübergehenden Ausfalls im Dienste der Volksgesundheit zu vertreten, müssen wir leider ablehnen. Da wir bis zur magischen Hundertermarke noch locker 50 Jahre vor uns haben, hat uns der Arzt jede Form von Aufregung strengstens verboten.
Tim Jensen braucht derweil unbedingt Sauerstoff aus der Flasche und hofft auf eine blitzschnelle Genesung. Ansonsten wäre das flotte Langzeitprojekt des Bundesgesundheitsministeriums, wäre die „Rente mit 93“ wohl ernsthaft in Gefahr.
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