Die Wahrheit: Abmarsch ins Land der Spaguzzen
Mein schönstes Ferienerlebnis: Ein typisch germanischer Sommerurlaub mit Stiefvater und Stiefmutter im staunenswert schimmernden Süden.
Nur ein einziges Mal in meiner Kindheit fuhren wir ins nichtdeutschsprachige Ausland. Es dauerte drei Tage, mit dem VW „Sturmwind“ erst durchs ganze Land und dann durch Österreich, wo wir sonst immer im „Berghof“ der alten Frau Huflattichseder Urlaub machten. Doch diesmal fuhren wir noch weiter über die Berge und dann den Brenner-Pass hinab ins liebliche Italien.
„Bello Italia“, zischte Stiefvater verächtlich hinterm Lenkrad, als es mit fast siebzig Sachen steil bergab ging. „So nennen die ihr Land. Wie einen Hund.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist kaum zu glauben.“
Wir Stiefkinder waren ebenfalls verblüfft. So etwas Schönes hatten wir noch nie gesehen. An den Hängen standen Weinreben, zwischen malerischen alten Häusern Bäume mit Aprikosen und Pfirsichen, die es bei uns nur zu Weihnachten gab, getrocknet oder aus der Dose. Und dann diese Farben. Rot. Gelb. Grün. Blau. Zu Hause war immer alles nur grau. Unsere Herzen hüpften.
Italienisch sei ja im Grunde gar keine richtige Sprache, erklärte uns Stiefvater unterwegs. Sondern nur so eine Art Räuberlatein, wie von unfähigen Schülern, die im Lateinunterricht nicht aufgepasst hatten. Wie zum Beweis zitierte er herrlich klingende Sätze aus seinem Vorkriegslateinbuch: „Sim salabim cum omnibus alique alibunter sumus ögertur.“
Perle unter den Sprachen
„Das ist noch eine richtige Sprache“, schwärmte Stiefvater, „Subjekt. Prädikat. Objekt. Und nicht so ein Kauderwelsch für Diebe und Faulenzer.“ Als leuchtendes Gegenbeispiel, so stepfathersplainte Stiefvater weiter, sei auch zuvorderst unsere edle deutsche Sprache zu nennen. Diese reinste Perle, dieser Champagner unter den germanischen Sprachen, dozierte er, sei so schön und klar, dass niemals ein Ausländer sie fehlerfrei würde sprechen können, denn für einen solchen Missbrauch sei sie auch nicht gedacht.
Als wir schließlich am Meer waren, blau schimmernd und weich von einem warmen Wind gestreichelt, schluchzte ich unwillkürlich auf vor Glück. Doch nicht lange, denn gleich bekam ich meine verdiente Backpfeife, denn „ein deutscher Junge weint nicht.“
Das Überraschendste an den Italienern war für mich, wie nett sie uns gegenüber blieben, obwohl wir so scheiße zu ihnen waren. Und das nur 27 Jahre nach dem Krieg, in dem wir ebenfalls schon megascheiße waren. Und davor auch: Goten, Vandalen, Hermannschlacht, you name it.
Stiefvater sprach in einem fort davon, den „Spaguzzen endlich Zivilisation beibiegen“ zu wollen, weil da „nichts funktionierte“ und der „Schlendrian herrschte“, den ich mir daraufhin wie einen lustigen König vorstellte, mit einer Mischung aus Krone und Schellenkappe auf dem Kopf.
Ich musste immer lächeln, wenn ich diesen Schlendrian vor Augen hatte, der mich auch ein wenig an den freundlichen Onkel Göring im Erdgeschoss erinnerte, der nur ein Bein hatte und immer so süßlich roch. Ich hatte jedoch das starke Gefühl, dass die Stiefeltern, wie überhaupt alle „Menschen“ aus unserem kalten und bösen Land, den Italienern die Sonne, das Essen, die Kultur, die Lebensfreude und vor allem das blaue Meer abgrundtief neideten. Dessen war ich mir instinktiv sicher, doch was wusste ich schon, ich war ja erst sechs Jahre alt.
Auch bei uns gab es ein „Meer“, aber das war nur eine selbst im Sommer halbgefrorene, schwarzbraune Brackwasserpfütze voller Quallen, Katzenhaie und rostiger Munition, über die nonstop ein lebensfeindlicher Nordost pfiff. Die Stiefeltern nannten sie euphemistisch und mit irreführendem Artikel „die Ostsee“, doch gerade dieser garstige Tümpel war neben der Scheißlaune, dem Kinderhass, dem Fraß aus Graubrot, Pupskohl und Schweineknorpeln, den uniformartigen Plastikklamotten sowie den grauen, zerbombten Städten ein zentrales Symbol für den Neid der Deutschen.
Eben deshalb wollten sie alles einfach nur zerstören, und zwar zuerst die Fröhlichkeit der Einheimischen. Das würde als Touristen etwas länger dauern als früher mit der Wehrmacht, aber am Ende wäre es genauso gut geeignet, die Seele der Italiener zu töten, bis sie so leblos wäre wie unsere eigene schon seit Karl dem Großen.
Und so begann unser Zermürbungskampf bereits an der ersten Tankstelle, setzte sich über die Rezeption des Campingplatzes und den Strandliegenverleih fort, um abends in der Pizzeria „I Due Larifari“ verlässlich zu eskalieren.
Spaghetti in Stücken
Alles musste schnell gehen. „Avanti Dilettanti“, schrie Stiefvater in einem fort, wenn ein Kellner nicht schnell genug sprang. Und knurrte: „Warum können die hier kein Deutsch? Das kann ja wohl nicht so schwer sein!“ Kamen die Bediensteten dann an unseren Tisch, mussten sie uns die Spaghetti immer in kleine Stücke schneiden – wie hätten wir sie denn sonst auch essen sollen? Wenn sie es nicht taten, schrie Stiefvater so lange wie am Spieß, bis sich doch noch jemand erbarmte.
„Ubi sunt Mussolini?“ Stiefmutter wollte gern Muscheln probieren. Muscheln mit Knotschi. Die südliche Sonne hatte sie abenteuerlustig gemacht. Tomatenrot leuchtete ihre Birne über dem kanariengelben Strickkleid: España olé! Man benutzte damals Sonnenöl mit Lichtschutzfaktor minus zehn, mit dem auch Grillhähnchen zum Bräunen bestrichen wurden.
„Nixe Mussolini“, bedauerte der Kellner und wusste seine Empörung gut hinter überbordender Gastlichkeit zu verbergen. „Dlaczego?“, fragte Stiefvater streng den Italiener. So stolz er darauf war, fast alle Sprachen der Welt zu können, griff er auf der verstimmten Klaviatur seiner Sprachkenntnisse doch verlässlich stets die falsche Taste. Deshalb verstand ihn keiner, was eh besser war. Umso mehr spürte er jedoch, dass ihm die Dinge zu entgleiten drohten. Viel zu gut gefiel es uns Stiefkindern in Italien, und selbst Stiefmutter schien sich wohlzufühlen. Pasta, amore, cunnilinguine. O sole mio.
„Ist doch scheiße hier“, murrte Stiefvater. „Immer diese Sonne. Nudeln statt Kartoffeln. Und ständig dieses debile Dauergegrinse von den Leuten.“ Schon nach drei Tagen brachen wir vorzeitig unsere Zelte ab. Doch noch heute sehne ich mich jeden Sommer nach Italien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen