Die Wahrheit: Tote Enten im Nebel

Durch Ostwestfalen wabern die Nebelschwaden. Wie in einem Edgar-Wallace-Film. Fehlen nur die Leichen. Oder ist da nicht eine? Im Kanal?

Minden! Was für eine verzauberte Stadt. An einem Sonntag lag sie im Nebel. Fußballspiele wurden nicht angepfiffen, weil der Ball im Tor nicht mehr zu sehen war. Man hätte Edgar-Wallace-Filme drehen können. Ach, müssen. Dauernd meinte man, Klaus Kinski taucht plötzlich auf. Oder Elisabeth Flickenschildt bricht durchs Unterholz. Oder Eddie Arendt mit Bowler-Hut. Oder ein Bein im Nebel, an dem eine Leiche hängt.

Ich kenne solche Wetter und mich hier aus. Ich fand also trotz Nebel am frühen Nachmittag den Bahnhof, der umrankt war von wabernden Schwaden. Die Fassaden-Türme ragten vor mir auf wie „Das Gasthaus an der Themse“. Die Liebste kam an aus Niedersachsen: „In Hannover scheint die Sonne!“, begrüßte sie mich. Ich antwortete: „Ja, aber was man da in der Sonne sieht, ist bei Weitem nicht so schön wie Minden im Nebel!“

Sie lachte und wollte Beweise. Der Weg an der Weser entlang war leer. Immer noch im Nebel erwartete ich Leiche um Leiche. Im Wasser treibend. Meine Edgar-Wallace-Deformation schritt voran. Genau wie die Glühweingeister, die jetzt zum Weihnachtsmarkt wanderten. Als käme eine Karawane aus der Wüste, stürzten sie sich auf das klebrige Heißgetränk.

Wir gingen unter der Kleinbahnbrücke durch. Enten hockten im Gras. Ich hockte mich dazu und fühlte mich wie Sigourney Weaver in „Gorillas im Nebel“. Auf einer Bank stand ein gläserner Tortenständer. „Kann man mitnehmen!“ Der Kuchen war bereits verschwunden.

Wir kamen am Bootshaus vorbei. Davor stand ein Radtrainer mit dem Zettel „Zum Mitnehmen“. Sie sagte: „Wenn es hier alles umsonst gibt, sieht das aber schlecht aus für den Handel.“ Ich nickte und überlegte, ob die Tortenplatte mein Weihnachtsgeschenk für Muttern sein könnte.

Wir stiegen zum Mittelkanal hoch, der sich hier über die Weser spannt. Das Ende der Brücke versank im Nebel. Wir hörten leise einen Schiffsmotor tuckern, sahen aber kein Schiff. Würde es uns rammen? Wieder suchte ich im Wasser nach einer Leiche.

Ein Paar tauchte auf mit dem „Hund von Blackwood Castle“. Das Wasserstraßenkreuz sah gespenstisch aus. Vom Bootshaus kam ein Ruderer herauf und setzte seinen Einer ins Wasser ein. Er trainierte in perfekter Technik und verschwand im Nebel. War er der „Hexer“? Oder doch der „Zinker“? Hatte er die „toten Augen von London“?

Ich geriet immer mehr in den Edgar-Wallace-Modus und rechnete damit, dass in spätestens zwei Minuten nur noch sein Boot im Wasser treiben würde. Würde er dann als „der Frosch mit der Maske“ ans Ufer steigen? Vielleicht sollte ich mal einen Minden-Krimi schreiben. Den Titel hätte ich schon: „Die toten Enten im Nebel“.

Plötzlich sah ich mich als der junge Heinz Drache von Ostwestfalen. Und meine Liebste als ewig junge Karin Dor. Innerlich formulierte ich schon los, als sie bemerkte: „Diese Rollen von Eddie Arendt, dieses Tolpatschige, das wär’ auch was für dich gewesen!“

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Der Kabarettist und Autor Bernd Gieseking steht seit über zwanzig Jahren auf der Bühne. Er schreibt Kolumnen für die »Wahrheit«-Seite der »taz«, Kinderhörspiele für den WDR Hörfunk sowie Bücher – und die am liebsten über Finnland: »Finne Dich Selbst!« und »Das kuriose Finnland-Buch«, alle erschienen im Fischer Verlag. Wenn er nicht schreibt, dann tourt er mit seinen Kabarettprogrammen »Gefühlte Dreißig«, »Finne Dich Selbst!« sowie - jeweils in den Wintermonaten - mit seinem alljährlichen satirischen Jahresrückblick »Ab dafür!« durch die Republik.

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kari

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