Die Wahrheit: Einfach weitersaufen
Richtig gelesen, offenbaren auch nichtssagende Wahlplakate dem kritischen Stimmbürger wertvolle Einsichten.
Die heiße Phase des Wahlkampfs hat begonnen, große und kleine Plakate schießen geradezu aus dem Boden. Was dem mündigen, kritischen Bürger zumindest im Berliner Stadtteil Wilmersdorf zuerst auffällt, ist ausgesprochen positiv: Nur ein Drittel der Plakate zeigt Politikerköpfe, und fast niemand lacht richtig, mit Zähnezeigen und allen Schikanen.
Das traut sich nur noch der CDU-Kandidat Klaus-Dieter Gröhler (Name nicht geändert), also richtig, richtig oldschool, vielleicht aber auch nur Dusseligkeit. Merkel, Schulz und die jeweiligen Wahlkreiskandidaten halten den Mund geschlossen, haben wohl den Auftrag zu lächeln, aber es reicht in der Regel nur zu einem Grienen oder gar Schmunzeln.
Politik als Rehamaßnahme
Merkel sieht ganz adrett, aber müde aus; sie muss noch einmal ran und sich jetzt weiter mit Typen wie Trump, Seehofer, Putin, Erdoğan herumärgern, das tut sie aus Liebe zu Deutschland, als Patriotin, aber Freude kommt da nicht auf, und man kann sie verstehen. Schulz sieht aus wie ein trockener Alkoholiker aus Würselen, immer eifrig, immer bemüht, aber es liegt kein Segen darauf. Politik als Rehamaßnahme – vielleicht hätte er einfach weitersaufen sollen.
Doch jetzt wird’s interessant: Lindner von der FDP wie auch die übrigen Schnurzelkandidaten dieser Partei gucken alle ernst, fast angepisst – als seien sie Supermodels! Auch so mit Dreitagebart, offenem Hemd, saucool, und Lindner setzt noch einen drauf, auf einem Großplakat hält er den Kopf gesenkt, man kann sein Gesicht nur erahnen, und die Botschaft ist klar: Dies ist ein verwundeter Mann, der in seiner Jugend – vielleicht bei den Regensburger Domspatzen – belästigt worden sein könnte, der aber sein traumatisches Erlebnis überwinden will und deshalb nun eine Opferinitiative ins Leben gerufen hat; und da Lindner attraktiv ist, an Gewicht verloren, an Haupthaar aber gewonnen hat, sieht man diese Plakate ganz gern, bekommt jedenfalls keinen Schreck.
Der Hammer aber sind die AfD-Plakate! Entweder sind die Alternativler alle notgeil, oder sie sind tatsächlich die Superstecher! „Burkas? Wir stehn auf Bikinis“, behauptet der Text, als Blickfang dienen zwei hübsche Mädchenhintern. Noch schöner aber ist das Potenzprotzer-Plakat: „Neue Deutsche? Machen wir selber.“ Da hat sich der Jaguarfahrer Gauland offenbar auf seine alten Tage noch einmal an die herrlichen Ordensburgzeiten erinnert, als willige Maiden von ausgewählten SS-Männern beschält wurden, um dem Führer neue Soldaten zu schenken; oder steckt Höcke hinter dieser Idee?
Ariernachweis unnötig
Jedenfalls können nun patriotisch gesinnte und echtdeutsche Frauen (Ariernachweis unnötig) unter dem Stichwort „Ordensburg 2.0“ an Alexander Gauland schreiben beziehungsweise mailen (afd@t-online.de) und einen Antrag stellen (bitte mit aktuellem Foto), jede Zuschrift wird beantwortet (Bild zurück).
Dass Frauke Petry ihren jüngsten Sohn auf einem Plakat vorführt, hat ihr zwar eine Anzeige wegen Kindesmissbrauchs eingebracht (von Lindner?), aber es geht Petry wohl eher darum, das „Mutterverdienstkreuz mit Pauken und Trompeten“ ab dem zehnten Kind ins Grundsatzprogramm der Partei aufnehmen zu lassen. „Ich kann auch ohne AfD die demografische Wende für Deutschland schaffen, und zwar alleine!“, soll die kleine Frau mit dem dämonischen Sexappeal ihrer (lesbischen) Konkurrentin Alice Weidel (Spottname: „Trockenpflaume“) auf dem letzten Parteitag ins Gesicht geschleudert haben, und es ist offensichtlich keine leere Drohung.
Das Schmierige, Swingerclub-artige der AfD-Wahlwerbung entspricht jedenfalls der Anmutung ihres Personals wie ihres Programms, praktisch „Trau dich!“, wie es auf den Plakaten ungeschönt heißt. Rein werbetechnisch betrachtet also Gold für die AfD, Silber FDP, Bronze CDU und SPD, Ehrenbambi für die Linke und Die Grünen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles