Die Wahrheit: Zunge und Schnauze
Biologie und Komik: Teil 26 der Serie über die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung beschäftigt sich mit Ameisenbären und Erdferkeln.
Ameisenbär und Erdferkel – die beiden Tiere haben vieles gemeinsam: Sowohl der in Südamerika lebende Ameisenbär als auch das afrikanische Erdferkel leben von „staatenbildenden Insekten“. Ersterer leckt mit seiner 60 Zentimeter langen Zunge bis zu 30.000 dieser Tiere am Tag auf, Letzterer bricht mit seiner Schnauze ihre Nester und Bauten auf.
Die Erdferkel wurden wegen ihrer Nahrungsvorliebe zunächst zu den Ameisenbären gezählt, ihr Erstbeschreiber 1766 war der russische Naturforscher Peter Simon Pallas. Im Alter bezog er ein Haus in der Kreuzberger Friedrichstraße, dort, wo jetzt die taz ihr Redaktionsgebäude errichtet, das aber nur nebenbei.
Inzwischen gilt das Erdferkel als einzige Art in der Ordnung der „Röhrenzähner“, und der Große Ameisenbär ist eine von vier Arten in der Ordnung der „Zahnarmen“. Dieser ist stark behaart, hat einen langen buschigen Schwanz, in den er sich zum Schlafen einringelt; jener ist fast nackt, sein Schwanz ist fleischig und er gräbt sich Erdhöhlen, dazu dienen ihm seine grabschaufelähnlichen Vorder- und Hinterfüße. Der Ameisenbär hat eine lange, nach vorne dünner werdende Schnauze, das Erdferkel eine eher kurze, die sich vorne verdickt.
Der eine ist am Tag unterwegs und das andere nachts. Beide sind Einzelgänger mit großen Revieren. Zwar sind sie nicht miteinander verwandt, aber beide zählen zu den ganz wenigen Säugetieren, die sich vor allem von Ameisen und Termiten ernähren.
Im Karneval als Ameisenbär
Über den Ameisenbär erfährt man hierzulande vieles, vor allem dank seiner witzigen Erforscherin Dr. Lydia Möcklinghoff, die alljährlich ins brasilianische Überschwemmungsgebiet Pantanal fährt, wo sie mit Machete, GPS, Bewegungskameras und sportlichem Durchhaltevermögen Feldforschung betreibt, um unser Wissen über Ameisenbären zu mehren. In ihrem letzten Buch „Die Supernasen“ (2016) nennt sie ihre jahrelange Tätigkeit „Erbsenhirnparalleluniversumsforschung“. Auf einem TV-„Scienceslam“ zeigte sie 2013 Fotos von Ameisenbären, die an Baumstämmen Kratz- und Geruchsspuren „lesen“ und selbst welche hinterlassen, um sich untereinander zu verständigen.
Die Kölner Ameisenbärforscherin, die sich beim Karneval als Ameisenbär verkleidet, ist mit ihrem Forschungsobjekt fast eine wissenschaftliche Einzelgängerin. In einem Zeit-Porträt klagte sie: „Tierforscher gibt es viele auf der Welt, sie erkunden alles, von der Ameise bis zum Elefanten. Aber kaum einer interessiert sich für den Ameisenbären. Dabei ist der eine ansehnliche Erscheinung, Protagonist vieler südamerikanischer Mythen, ein beliebtes Zootier. Und doch ist nur wenig über ihn bekannt. Ihm widmet sich keine Forschergemeinde, und es gibt kaum Fachliteratur über ihn: Insgesamt gibt es fünf größere Studien über sein Verhalten. Vier davon sind Jahrzehnte alt.“
Die Verhaltensforscherin hat kein Team und kein Geld, sie ist auf „Fundraising“ angewiesen. Durch die Intensivierung der Landwirtschaft in Brasilien und den Nachbarstaaten ist der Große Ameisenbär inzwischen zu einer gefährdeten Art geworden, zum Glück schmeckt er weder den Leoparden noch den Menschen, obwohl er gelegentlich doch ihr Opfer wird, durch Letztere vor allem im Straßenverkehr: „Er ist eben nicht gerade der Hellste“.
Bei den afrikanischen Erdferkeln sieht die Forschungslage nicht besser aus. Die Erdferkel sind als Art noch nicht gefährdet, aber Genaueres weiß man nicht, denn laut Wikipedia „muss die Lebensweise des Erdferkels trotz seiner weiten Verbreitung als eher wenig erforscht angesehen werden“. Und auch „das Sozialsystem ist kaum näher erforscht“. Zum Teil überschneiden sich die Reviere zwischen den Geschlechtern. „Der Grad der Territorialität ist aber unbekannt, Begegnungen zweier gleichgeschlechtlicher Tiere sind bisher äußerst selten beobachtet worden.“ Ihre soziale Kontakte sind jedoch wohl „auf kurze Treffen von maximal 10 Minuten beschränkt, danach widmen sich die Tiere wieder der Nahrungssuche.“
Kein Tier mit Erbsenhirn
Mein erstes Buch über sie erwarb ich 1993 – eine Bildergeschichte von Hilke Raddatz mit dem Titel „Helmut das Erdferkel“, das war keineswegs ein „Erbsenhirn“-Tier. Damit konnte ich mich identifizieren, die Autorin hatte ein sehr freundliches Bild vom Erdferkel gezeichnet. Um ein echtes Tier zu betrachten, ging ich in das Berliner Naturkundemuseum und guckte mir das ausgestopfte Exemplar an, es wirkte verstaubt. Um ein lebendigeres zu sehen, ging ich auch noch in den Westberliner Zoo, wo man im Nachthaus ein Erdferkel hielt.
Das Tier in seiner spärlich beleuchteten Kunstgrotte mit Schaufensterglas davor machte auf mich einen deprimierenden Eindruck. Es schien nicht zu wissen, was es in diesem kleinen geschlossenen Raum überhaupt sollte. Irgendwann muss dort aber noch ein zweites Erdferkel dazu gekommen sein, denn 2010 meldete die Hauptstadtpresse: „Erdferkel-Baby ist neue Attraktion im Berliner Zoo. Es hat einen schweineartigen Rüssel, hasenartige Ohren, einen unbehaarten Schwanz und kuschelt am liebsten mit einer flauschigen Decke.“ Da die Mutter ihr Baby nicht angenommen hatte, war es vom Tierpfleger mit der Flasche großgezogen worden. Auf Fotos sah man, wie die beiden auf einer Wiese spielten, da war es schon etwa so groß wie ein Absetzschwein und auch so munter.
In Freiheit legen die Erdferkel in ihrem Revier, in dem sie tagsüber „im Zickzack“ langsam und aufmerksam unterwegs sind, etliche Erdbauten an – aus Sicherheitsgründen, obwohl sie, „vom Menschen abgesehen, nur sehr wenige Feinde“ haben, wie das „Tierlexikon“ versichert. Man hat 101 Erdbaue auf einer Fläche von 15.000 Quadratmetern gezählt, manche haben mehrere Eingänge. Der Tierhändler Hermann Ruhe aus Alfeld hat in seinen Erinnerungen von den Schwierigkeiten berichtet, die seine afrikanischen Helfer hatten, eins auszugraben und in die Transportkiste zu kriegen.
Alfred Brehm schrieb bereits: „Der Jäger, welcher ein Erdferkel wirklich überrascht und festhält, setzt sich damit noch keineswegs in den Besitz der erwünschten Beute. Wie das Gürtelthier stemmt es sich, selbst wenn es nur halb in seiner Höhle ist, mit aller Kraft gegen die Wandungen derselben, gräbt die scharfen Klauen fest ein, krümmt den Rücken und drückt ihn mit solcher Gewalt nach oben, daß es kaum möglich wird, auch nur ein einziges Bein auszulösen und das Thier herauszuziehen. Ein einzelner Mann vermag dies nie; selbst mehrere Männer haben genug mit ihm zu thun.“
Gefährlicher Nachnutzer der Erdferkel
Das Erdferkel frisst an einem Ameisen- oder Termitennest laut Wikipedia meist nur kurze Zeit: zwischen zehn Sekunden und zwei Minuten. „Dadurch kann es rund 25 verschiedene Nester in einer Stunde oder etwa 200 innerhalb einer Nacht aufsuchen, die gefressene Menge an Insekten beläuft sich auf schätzungsweise 50.000 Individuen täglich.“
Indem das Erdferkel nur kurz an den Ameisen- und Termitennestern räubert, werden diese nicht zerstört, ihre Bewohner werden vielmehr nachhaltig vom Erdferkel genutzt, indem es nur ihre Ausbreitung beschränkt – was den Beutetieren und -pflanzen der Ameisen und Termiten zugute kommt.
Die Erdferkel haben aber einen „Nachnutzer“: den Erdwolf, aus der Familie der Hyänen, die zu den Fressfeinden der Erdferkel zählen, der Erdwolf ernährt sich jedoch von Termiten. Vor allem im Winter, wenn sich die staatenbildenden Insekten zurückziehen, folgt er dem Erdferkel und geht an die von ihm aufgebrochenen Nester und Bauten. Aus Sicht der staatenbildenden Insekten sind sie zusammen genommen staatsgefährdend.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“