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Die WahrheitDie Faust – eine Tragödie

Kolumne
von Fabian Lichter

Einmal im Leben bricht man sich die Hand – und schon sehen einen alle scheel an. Denn zu einer Boxerfraktur gehört auf der anderen Seite ein Kiefer.

Ja, kein Wunder. Da ist eindeutig ein Bruch!“, höre ich den Arzt sagen. Aha, daher die Schmerzen, gut, jetzt verstehe ich. Und ärgere mich. Bin ich doch fast dreißig Jahre alt geworden – ob aus starkem Knochenbau oder allgemeiner Feigheit und Risikoscheuheit, das lasse ich einmal dahingestellt –, ohne mir einen Knochen zu brechen. Und jetzt das! Auch noch die Hand. Eine sogenannte Boxerfraktur.

Alles so unangenehm, wie es klingt. Nach nur zwei Wochen in der Gipsschiene habe ich bereits das Gefühl, einen in Mull gebundenen, mausetoten, vor sich hin modernden Plattfisch als Hand mit mir herumzutragen. Regelrecht erstaunlich, dass bis jetzt noch keine Fliegen um den Gips schwirren und, wenn ich über die Straße gehe, kein Ungeziefer aus den Gullydeckeln springt, um mir nachzulaufen.

Ich versuche mittlerweile größtmögliche Distanz zu meiner eigenen Hand zu halten, entfremde mich also von meinem eigenen Körper. Warum ich das erzähle? Erst einmal um eine gewisse Portion Mitleid zu erhaschen. Aber natürlich liegt auch eine wertvolle Erkenntnis in dieser Geschichte. O nein, höre ich es nun jaulen. Ganz recht! Selbst mir ist bewusst, dass Knochenbrüche – wenn auch hoffentlich nicht für einzelne, traurige Individuen, so doch zumindest im gesamtgesellschaftlichen Ganzen – etwas Alltägliches sind. Mit der Boxerfraktur hat es allerdings seine eigene Bewandtnis.

Anscheinend gibt es nach offiziellem Stand der Medizin nämlich keine andere Möglichkeit, sich eine Hand so zu brechen, als jemandes Kiefer zu zertrümmern, geht man jedenfalls nach den Ärzten und ihren Reaktionen. Ich habe es dennoch geschafft, aber die Welt ist augenscheinlich noch nicht bereit dafür, deshalb und der Spannung halber spare ich auch aus, was meiner Hand wirklich zugestoßen ist. Drei Ärzte an der Zahl habe ich bereits im Zuge meiner Verletzung getroffen. Jedes einzelne dieser Treffen, eine Erfahrung, ein Perspektivwechsel zu meinem vorherigen Leben, jedenfalls für die Länge einer Röntgenbehandlung. Ein Privilegiencheck auf Krankenkasse.

„Wo ist denn der dazugehörige Kiefer?“ oder ein ungläubiges „Das ist aber sehr ungewöhnlich!!!“, gar „Was ist denn nun wirklich passiert?“ bekam ich zu hören, konnte gegen­reden, wie ich mochte, bis ich einsehen musste: Niemand glaubt mir! Verachtungsvolle Blicke, von Menschen, die mich schnellstmöglich weiterschicken wollen.

Ein Knochenbruch, der Preis der Erkenntnis. Für mich (hetero, männlich, weiß) eine gänzlich neue Erfahrung. Vorverurteilung, Blicke, die Distanz schaffen möchten und eine permanente Zuschreibung kriminellen Verhaltens, das erlebe ich sonst lediglich, wenn ich meine Familie besuche. Zu Recht! In der Öffentlichkeit bleibe ich davon aber stets verschont. Mein Bruch jedenfalls heilt gut, sofern der Orthopäde mich vor Verachtung nicht gleich noch belogen hat, und ich bin um eine Erfahrung reicher: Sollte mir jemals wieder jemand so blöd daherkommen, box ich ihn einfach um!

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