Die Wahrheit: Freunde in der Haft
Biologie und Komik: Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (15) – heute mit Gefangenen, die zu tierischen Verhaltensforschern werden.
Bei den meisten Tier- und Pflanzenforschungen ist das Objekt mehr oder weniger fixiert. Die „Wahrheitssuche“ ist eine Art „peinliche Befragung“. Nur selten ist es auch einmal umgekehrt. So zum Beispiel, als man Rosa Luxemburg 1916 in einem Breslauer Gefängnis inhaftierte, weil sie gegen den Krieg agitiert hatte, und sie dort dann von ihrem Zellenfenster aus Blaumeisen beobachtete. In Briefen an ihre Freundin Sophie Liebknecht berichtete sie darüber.
Auch der Dichter Ernst Toller forschte in der Haft: 1919 hatte man ihn wegen seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. In seiner Zelle brütete ein Schwalbenpärchen, über das er 1924 ein „Schwalbenbuch“ veröffentlichte. Diese inhaftierten Tierforscher richteten sich an der Lebensfreude der Vögel auf.
Der russische Priester Pawel Florenski erforschte in den dreißiger Jahren bis zu seiner Erschießung im sowjetischen Straflager auf den Solowki-Inseln Algen, die man industriell verwerten wollte. In Briefen an seine Kinder berichtete er darüber, sie wurden im Jahr 2001 auf Deutsch veröffentlicht. Eigentlich sei er mit seiner Isolierung auf den Solowki-Inseln am Ziel seiner Wünsche angelangt, schrieb Florenski seiner Frau.
Als Jüngling habe er immer davon geträumt, ins Kloster zu gehen, jetzt lebe er in einem, nur dass es eben zum Lager gehöre. Als Kind sei es sein sehnlichster Wunsch gewesen, auf einer Insel zu wohnen, die Gezeiten zu erleben und sich mit Algen zu befassen. „Nun bin ich auf einer Insel, hier herrscht Ebbe und Flut, und ich werde mit Algen zu tun bekommen.“
Algen auf Inseln
Der sieben Jahre in der Bayreuther psychiatrischen Anstalt inhaftierte Gustl Mollath nahm ein kleines Beerengewächs mit in die Freiheit: eine „Dattelorange“. Für ihn sei dieser Zuchterfolg im Knast ein Zeichen, meinte er: „Wenn man will, kann man vieles durchstehen.“
Für Ernst Toller und Rosa Luxemburg war die Vogelbeobachtung mehr ein Zeitvertreib in der Isolation, obwohl Rosa Luxemburg ihrer Brieffreundin gestand, dass sie lieber Biologin als Politikerin geworden wäre – aber die Zeiten waren nicht danach. Auch Ernst Toller kam von der Beobachtung „seiner“ glücklich wirkenden Schwalben sogleich auf das Glück der ganzen Menschheit zu sprechen.
Anders die amerikanische Biologin Elisabeth Tova Bailey in ihrem wunderbaren Buch „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ (2012). Eine rätselhafte schwere Krankheit zwang sie für lange Zeit, im Bett zu liegen. Ihre Freundin besorgte ihr ein Haus auf dem Land und schenkte ihr eine Pflanze, die sie an das Krankenbett stellte. Auf der Pflanze bemerkte die Autorin irgendwann eine Schnecke. Damit sie nicht wegkroch, besorgte sie sich ein Terrarium und beobachtete fortan das Tier darin. Dazu schaffte sie sich jede Menge Literatur über Schnecken an, korrespondierte mit Schneckenforschern in aller Welt und ist nun eine anerkannte Schneckenexpertin.
Ähnlich der amerikanische Schwerverbrecher Robert Stroud, der sich während seiner 54 Jahre dauernden Gefängnishaft zu einem anerkannten Experten für Kanarienvögel entwickelte, die er in seiner Zelle züchten durfte. Er schrieb zwei Bücher über Vogelkrankheiten, 1962 wurde sein Leben mit Burt Lancaster verfilmt: „The Birdman of Alcatraz“. Stroud durfte den Film jedoch nicht sehen, auch seine Bücher wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht.
Die meisten Menschen werden quasi aus Versehen Verhaltensforscher: Sie schaffen sich ein Tier oder eine Pflanze an und sind sensibel genug, um wenigstens die Minimalbedürfnisse dieses Wesens einer fremden Art befriedigen zu wollen. Irgendwann wird das zu ihrer Haupt- oder Lieblingsbeschäftigung und schon sind sie auf halbem Wege, um beispielsweise Hunde- oder Rosenexperte zu werden.
Manche „Biophile“, wie die Liebhaber einer anderen Spezies auch genannt werden, merken ihre Neigung erst, wenn es quasi zu spät ist, um noch einen Rückzieher machen zu können. Sehr schön und witzig hat das Annemarie Beyer in ihrem kleinen Buch „Mein Leben mit Igor“ beschrieben, dessen Untertitel bereits erläutert: „Eines Tages verlor ich den Verstand und kaufte einen grünen Leguan“.
Verwandlung in einen Habicht
Ähnlich erging es der ebenso jungen englischen Historikerin Helen Macdonald. Sie wurde fast irre, als sie in ihrem über fünf Jahre langen engen Zusammenleben mit ihrem Habicht „Mabel“ wunschgetrieben dahin kam, „ein Habicht zu werden“. In ihrem Buch „H wie Habicht“ (2015) schreibt sie: „In meinem Unglück hatte ich den Habicht aber nur in einen Spiegel meiner selbst verwandelt […] Irgendetwas lief schief. Sehr schief.“
Sie erinnert sich an den An-thropologen Rane Willerslev, der das sibirische Volk der Jukagiren erforschte. Dabei erfuhr er, dass „eine solche Verwandlung bei den jukagirischen Jägern als sehr gefährlich gilt, weil man dadurch den Kontakt zur Identität der eigenen Spezies verlieren und eine ‚unbemerkte Metamorphose durchlaufen‘ könne.“ Einige männliche Rabenforscher bemerken in ihren Publikationen stolz, dass sie den Raben immer ähnlicher werden. Was sie für einen Fortschritt in ihrer Wissenschaft halten.
Man kann bei aller Tierliebe leicht den Kontakt zur eigenen Spezies verlieren, indem man dabei vereinsamt. Die Leute schaffen sich nicht nur ein Tier an, weil sie einsam sind, sondern vereinsamen auch, weil sie sich ein Tier angeschafft haben.
So ging es zum Beispiel dem amerikanischen Moralphilosophen Mark Rowlands, nachdem er sich einen kanadischen Wolf besorgt hatte, den er „Brenin“ nannte und überall mit hinnahm, daneben joggte er mit ihm zwei Mal täglich ausdauernd. Erst einmal ließ er ihn jedoch abrichten: Mit der „Koehler-Methode“ lernte der Wolf laut Rowlands eine „Sprache“ und hatte damit „die Chance, auf sinnvolle Weise“ mit seinem Besitzer „zusammenzuleben, statt dass er im Garten hinter dem Haus eingesperrt und vergessen wurde“.
Diese Sprache verschaffte ihm „eine Freiheit“ in der „menschlichen Welt“. Mehr noch: „Wir können diese Sprache verstehen.“ Rowlands bekam erst eine Dozentur in Irland, dann eine in Frankreich, Brenin war überall mit dabei, in den Seminaren, auf Partys, in Kneipen, auf Reisen.
Vegetarier mit Wolf
Als Rowlands merkte, dass er nicht mehr ausdauernd joggen konnte, schaffte er sich zwei Schäferhunde an, mit denen der Wolf fortan herumjagte. Rowlands Entlastung durch die Hunde hatte jedoch einen gegenteiligen Effekt, zumal er auch beschlossen hatte, Vegetarier zu werden: „Allmählich zogen wir uns aus der Welt der Menschen zurück“, schreibt er: „Ein moralistischer Vegetarier, das seltsamste aller Geschöpfe, das dazu verurteilt war, den Rest seiner kümmerlichen Existenz ohne die geschmacklichen Wonnen von Tierfleisch zu durchleben. All das war einzig und allein Brenins Schuld, woran ich ihn erinnerte, wenn ich wieder einmal eines seiner Manöver zum Fangen von Kaninchen durchkreuzt hatte.“
Den tierrechtlich engagierten Verfechtern der „Animal Studies“ wird vorgeworfen, sie stellten „menschliches und tierisches Leben auf eine Stufe“. Es ist in Wahrheit jedoch noch viel extremer – wie die finnische Ornithologin Ulla-Lena Lundberg in ihrem Buch „Sibirien: Selbstporträt mit Flügeln“ (2003) gestand: „Von Vogelbeobachtern heißt es, sie seien Menschen, die von anderen Menschen enttäuscht wurden. Darin liegt etwas Wahres, und ich will nicht leugnen, dass ein Teil des Entzückens, mit anderen Vogelguckern gemeinsam draußen unterwegs zu sein, in der unausgesprochenen Überzeugung liegt, die Vögel verdienten das größere Interesse.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Analyse der US-Wahl
Illiberalismus zeigt sein autoritäres Gesicht
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos