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Die WahrheitÜberzeugungsarbeit überm Abgrund

Kolumne
von Eugen Egner

Wenn auf den eigenen Vormund schon kein Verlass ist: Wie soll es dann nur im Leben weitergehen und ganz besonders mit der Berufswahl?

D er Vormund ließ sich nicht davon beeindrucken, dass Frank eine „Vision“ von dem hatte, was er werden wollte, sondern verordnete ihm kurzerhand die Ausbildung zum Ingenieur. „Zieh dich an, wir gehen aus“, befahl der Vormund. Unterwegs wurde kein Wort gesprochen. Der Vormund stürmte mit entschlossener Miene voran, Frank hielt widerwillig Schritt, ohne zu wissen, wohin sie gingen.

Erst in den Straßenschluchten eines entfernten Stadtviertels machte der Vormund halt. Sie betraten den übelriechenden Hausflur einer Gründerzeit-Mietskaserne und stiegen unzählige Stufen hinauf, bis es nicht weiterging. Das Treppenhaus war an dieser Stelle schadhaft, der darüberliegende Teil des Gebäudes mit Balken und Stahlträgern abgestützt.

Ohne zu zögern hängte sich der Vormund, in Hut und Mantel, wie er war, an eine quer verlaufende Metallstange und bewegte sich durch Weitergreifen der Hände seitwärts, bis er genau über dem gewiss vier Stockwerke tiefen Abgrund zwischen den umlaufenden Treppen baumelte.

Vor den Augen seines Schützlings begann er alsdann, vor und zurück zu schwingen, dazu rief er laut um Hilfe. Es war früher Abend, weshalb die meisten Mieter zu Hause waren und nun neugierig aus ihren Wohnungen kamen. Der Vorgang war Frank entsetzlich peinlich. Es wurde laut geschimpft und gefragt, was der Unfug zu bedeuten habe.

„Wie kommt ein feiner Herr wie Sie auf so etwas?“ – „Aus Kummer über mein Mündel, den jungen Mann hier oben auf der Treppe“, erwiderte der Vormund. „Wenn er wollte, könnte er mich durch ein einziges Wort retten; er allein trägt die Schuld, wenn ich in den Tod stürze.“

Einige Männer kamen mit Seilen heraufgelaufen. Sie stießen Frank beiseite und bemühten sich, dem Vormund die Seile um den Leib zu schlingen. „Hangeln Sie sich zur Treppe zurück“, riefen sie, „wir halten Sie.“ Der Vormund war damit nicht einverstanden: „Danke, meine Herren, Sie sind zu freundlich. Ich muss Sie jedoch bitten, sich nicht einzumischen. Es liegt allein bei meinem Mündel …“

Die Männer zogen ihn, ohne seinen Einwand zu beachten, auf die Treppe zurück und banden ihn los. Dann drohten sie: „Nun macht aber bloß, dass ihr wegkommt! Und wagt ja nicht, hier noch mal so was aufzuführen!“ Vormund und Mündel gingen schweigend heim. Am nächsten Tag fragte der Vormund wieder: „Frank, mein Junge, wirst du die Ausbildung zum Ingenieur absolvieren?“ – „Nein.“

Umgehend wurde die Mietskaserne aufgesucht, wo der feine Herr, dem man so etwas gar nicht zutrauen mochte, dann wieder oben an der Stange hing und schrie. Diesmal erschien die Polizei, um der Vorstellung ein Ende zu bereiten. Da Frank trotzdem widerspenstig blieb, wurde die Übung noch einige Male wiederholt – ein Wunder geradezu, dass er jedes Mal wieder mitging. Erst nachdem die Männer ihn und den Vormund mit Stricken geknebelt über Nacht an der Stange über dem Treppenhausabgrund hatten hängenlassen, gab er nach im kläglichen Bewusstsein, Verrat an den eigenen Idealen zu begehen.

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