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Die WahrheitPossierliche Einsichten im nachmittäglichen Hirnkastl

Kürzlich wurde mir der Satz zugetragen, dass die biologische Systematik ein sehr dynamisches Forschungsfeld sei.

Kürzlich wurde mir der Satz zugetragen, dass die biologische Systematik ein sehr dynamisches Forschungsfeld sei. Eine Nachricht, die zu übersetzen war, damit sie bequem ins knisternde Gebälk der eigenen Anschauungen passe: Das Reich von Flora und Fauna, von Pflanz und Tier wird fortwährend ergänzt und korrigiert. Es gefiel mir, daran erinnert zu werden, dass dieser Systematik wie jeder anderen etwas Vorläufiges innewohnt. Man befindet sich auf dem jeweils aktuellen Stand des Irrtums. Wollte man den Oberlehrer an einem Sonntag im späten 19. Jahrhundert nachahmen, würde man Goethe zitieren: "Es irrt der Mensch, solang er strebt."

Wenig später erreichte mich von anderer Seite eine Meldung gleichen Kalibers. Nämlich dass es - nach einer verbreiteten Lehre "von der Neurobiologie bis zum Poststrukturalismus" - mit dem Ich, dem autonomen Subjekt, nicht mehr weit her sei, im praktischen Leben hingegen das Ich dominanter zu sein scheine denn je und dies Grund genug sei, nach seinem Verbleib zu fragen. Ja, wo isses denn?

Vom Zufall gesteuert fügte sich diesem Duo von Einsichten eine höchst possierliche Variante des Fachwissens bei, in Gestalt eines Reklameprospekts, der die "Nachtwäsche-Kompetenz bei Karstadt!" huldigte. Unvermutet gesellten sich diesen Botschaften nahebei im Hirnkastl die ersten Zeilen einer Graphic Novel zu. "Der Mann am Fenster" heißt sie. Die Geschichte in Bildern hatte ein Jugendfreund empfohlen, der sich derzeit unweit der westlichsten Spitze Europas aufhält, in Lissabon: "Es fahren viele Lastwagen durch das Viertel, in dem ich wohne. Der Staub der Welt klebt an ihnen. Durch das Fenster im Dach dringt das Quietschen der Bremsen, und ich stelle mir andere Lichter vor, kühle Alltäglichkeiten. Aber es geht mir gut hier. Ein kleines, sich wandelndes Universum."

Ich blätterte in dem großformatigen Buch, während ich mich in dem Café um die Ecke aufhielt, wie beinahe jeden Tag, jahrein, jahraus. Sonderbar, dachte ich plötzlich, ich sitze hier müßig, gleichzeitig knietief im Dispo watend. Doch welches Ich, hä? Ob hier ein autonomes Subjekt oder, den Comicstrip umdeutend, ein kleines, sich wandelndes Universum, traute ich mich nicht zu entscheiden. So wenig wie für die nächste Bestellung, die ein Scherflein dazu beitragen würde, den Dispo aufwärts hinauf zur Gurgel zu pumpen. Aus teleskopischer Perspektive wiederum würde man mich vermutlich zu den verwöhnten westlichen Staatsbürgern zählen, wohnhaft im Freilichtmuseum Mitteleuropa, indessen beispielsweise im Osten, ob nah oder fern, rasant und wie irrsinnig die Turbopost abgeht. Obendrein entnahm ich synchron der Zeitungsschlagzeile auf dem Nebentisch, dass Europas Sicherheitsarchitektur ins Wanken geraten sei. Auch dies galt es zu beachten. Was die Erinnerung wachrief, jedes Mal, wenn die Bahn mir das "Dauer-Spezial" anpreist, im Gleichklang den Begriff des permanenten Ausnahmezustands zu hören.

Binnen einer Woche jedoch gelang es mir, diesen Müßiggänger als fiktives Ich zu entlarven, das sich vergebens mühte, dem Bündel an Allerlei eine Systematik zu gönnen. Die übrigen Ichs wurden gleichfalls zu Erfindungen erklärt. Schwupp!

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