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Die WahrheitSchön wie Käthe Nofretete

"Wie siehst du denn aus?", frage ich Gisela, als sie die Sonnenbrille abnimmt. "Wie soll ich denn aussehen?", fragt sie genervt zurück. "Also irgendwie so …" Ich zögere.

Schließlich können ab einem gewissen Alter bei der Beantwortung so einer Frage Worte wie "gestresst" und "derangiert" Gräben in Freundschaften reißen. Auch ein fürsorglich gemeintes "übernächtigt" wird bei Damen jenseits der 40 eher mit nächtlichen Hitzewallungen in Verbindung gebracht als mit erfreulichen One-Night-Stands. "Verändert", versuche ich es vorsichtig. Als alles ruhig bleibt, wage ich mich mit: "Hattest du nicht einen Termin bei der neuen Kosmetikerin?", ein Stück weiter vor. Ich höre ein leises Ticken neben mir und halte die Luft an.

"Ha, Kosmetikerin!", detoniert Gisela und nimmt einen Schluck Espresso. "Öko-Trulla!", schnaubt sie erbost und: "Eso-Kuh!" Das hört sich nicht so an, als hätte sie gestern eine Stunde mit entspannender Gesichtsmassage und Aromaölen verbracht. "Du wolltest doch extra eine mit Bio", versuche ich ein bisschen Licht in den Cremetopf zu bringen. "Bio schon, aber keine mit höheren Weihen", antwortet Gisela. "Höhere Weihen?", frage ich verwundert und denke an Urkunden für gekonntes Pickel-Quetschen und Zertifikate mit Titeln wie "The Art of Damenbart". Aber so was scheint Gisela nicht zu meinen.

"Es ging los, als sie mir diese Packung aufs Gesicht geklatscht hatte", jammert sie. Verzweiflung furcht Giselas Stirn. "Ich war hilflos. Ausgeliefert. Verstehst du?" Ihr Teint ist fahl. "Als ich mit der Pampe also nicht mehr fliehen konnte, fing sie mit ihrer Mission an: Die Haut als Spiegel der Lebensgeschichte - nicht nur die der letzten Sonnenbäder, sondern die der anderen Leben. Bis hin ins alte Ägypten. Sie wollte mir ein Clearing verpassen", jault Gisela. "Also doch Pickel ausdrücken", sage ich beruhigt.

"Nein!", unterbricht sie mich: "Geistig! Sie würde da bei mir irgend so eine Schwingung spüren. Ganz schlechtes Karma. Und dann kam dieses Reinkarnationsblabla. Sie hätte schon so manchen von Akne befreit, nachdem sie seine Großmutter gechannelt hat." Gisela verzieht das Gesicht, und ich stelle mir vor, was sie wohl früher gewesen sein könnte. Außer Nofretete natürlich. Beim Blick auf ihren Hals muss ich an urzeitliche Echsen denken.

"Sie meinte, wenn ich mein schlechtes Karma nicht losließe, würde sich alles in meinen Tränensäcken sammeln. Da wäre mit Lymphdrainage dann auch nichts mehr zu machen. Darum hat sie mir angeboten, in einer Extrasitzung meine Ahnen zu rufen, damit mein negatives spirituelles Familienerbe aufgelöst wird und ich die schlechten Energien wie eine zweite Haut abstreifen kann."

Sie seufzt. "Also mir reicht eigentlich immer ein Peeling mit Mandelkleie", werfe ich ein, doch meine Tipps sind hier nicht gefragt. "Ich habe jedenfalls die ganze Nacht nicht geschlafen, weil ich ständig Oma Käthes Krähenfüße vor Augen hatte", jammert Gisela mit Griff zur Sonnenbrille, und ich frage mich, ob sie wirklich vor Augen meint oder nicht doch drunter.

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