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Die WahrheitJackpot Bahnnetz

Zu alten Bundesbahnzeiten standen auf den Bahnsteigen großer Bahnhöfe Sammelbehälter, die zum "Einwurf verbrauchter Fahrkarten" aufforderten.

Das schien ein netter Service, um sich einiger Gramm überschüssigen Reisegepäcks entledigen zu können. Hinter dem scheinbar freundlichen Angebot standen freilich gerissene Bahner und freiberufliche Eisenbahnfreunde, die sich mit den entwerteten Papieren noch viele Fahrten zum Nulltarif zusammenschnorrten. Man musste nur die Informationen der Zangenabdrücke entziffern können, um die Restlaufzeit der Tickets zu kennen.

Einem meiner besten Freunde hat seine kompromisslose Kosten-Nutzen-Rechnung auf der Strecke Kassel-Freiburg sogar langfristig die Ehe eingehandelt: Weil er mit seiner Rückfahrkarte meist schon vor Offenburg kontrolliert wurde, konnte er ab dort beim nächsten Besuch der Freundin noch einmal mit demselben Ticket fahren. Und beim nächsten Mal ab Karlsruhe, dann ab Mannheim und so weiter. Ein ganzer Monat blieb ihm dafür Zeit - und er hat sie sich genommen, bis die Bahn die Rückfahrtregeln änderte. Da blieb dem Freund dann nur die Ehe…

Unter dem Management der prä- und postmehdornschen Gleis- und Schwellenschänder wurden nicht nur die Fristen für die Gesamtdauer der Hin- und Rückfahrten auf zwei Tage eingeschränkt. Es sind auch die eingangs erwähnten Kilometersammelstellen verschwunden; und für die Rücknahme nicht angestempelter Tickets verlangt die Bahn mittlerweile 15 Euro, was die Sache kaum mehr lohnenswert macht.

Dennoch sollte man die Augen offen halten! Innerhalb einer Woche fand ich auf meinen völlig zufällig gewählten Plätzen in der Spannnetzablage vor meinen Knien erst eine unbenutzte Fahrkarte von Berlin nach Basel, dann eine papierene Tickettasche mit Reservierung und einem 50-Euro-Schein sowie zuletzt einen zangenabdrucklosen Fahrschein einer ganzen Reisegruppe von Berlin nach Wolfsburg und zurück. Die wird nun wohl für die Heimfahrt aus der Autostadt aufs Taxi angewiesen sein.

Die ICEs kamen allesamt aus der Hauptstadt, und die Frage stellt sich, ob nicht das andauernde S-Bahn-Chaos in Berlin mittlerweile schon zur allgemeinen Reiseunfähigkeit geführt hat. Als Kind war ich es zwar gewohnt, bei jeder kleinen Autofahrt eine "Reisetablette" gegen Übelkeit zu bekommen - aber die Hauptstadtflüchtigen scheinen aus Angst vor der langen Reise nun ganz andere Mittel und Dosen einzuwerfen. Anders lässt sich der ständige Ticketkontrollverlust nicht erklären.

Mittlerweile habe ich mich finanziell schon einen halben Monat mit den Findlingen aus den Berliner Zügen über Wasser halten können. Vielleicht sollte ich demnächst probehalber mal erster Klasse fahren, am besten am Donnerstag, wenn die Wahlmänner und -frauen der Bundesversammlung zurückdüsen. Der Schock nach der Gauck-Wahl dürfte danach so manche Debilität in den Großraumwagen zu Tage fördern respektive ins Spannnetz zu meinen Füßen…

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