Die Wahrheit: Die B-Seite des Bösen
Peter Alexander, ein Beziehungsdrama in der Bibel und die Achtundsechziger.
Die Zeit, als es in der Musik noch richtige Singles gab, ist eine seltsame, längst vergessene Epoche. Mit "richtigen Singles" sind nicht die falsch glänzenden CD-Silberlinge, sondern die veritablen schwarzen Vinylscheiben gemeint, die zerbrechen konnten und geheimnisvoll knisterten, weil man die Nadel noch per Hand aufsetzen musste.
Die Welt der Singles war klar und überschaubar: Es gab immer eine A- und eine B-Seite. Die A-Seite war der Hit und die B-Seite die Zugabe. A wurde auf der bunten Papierplattenhülle groß an erster Stelle angekündigt, B stand in kleineren Buchstaben bescheiden darunter. Jedes Mal hofften wir, dass die B-Seite unserer neuen Single auch ein Kracher wäre, aber das sollte nie, nie passieren und gehörte zu den großen Gewissheiten dieser Zeit.
Die Titel der beiden Musikstücke traten auf jeder Single in einen unvermeidlichen Dialog, der aber selten so widersprüchlich war wie bei der deutschen Version von "Delilah", gesungen von Peter Alexander! Das an das biblische Motiv der untreuen Delilah und des verratenen Samson anknüpfende Beziehungsdrama wurde nämlich durch eine B-Seite konterkariert, die "Wenn wir uns mal streiten" hieß. Dort wird dann beschrieben, was hätte passieren können, wenn Delilahs Mörder sich mit seiner Geliebten besser verstanden hätte.
Die Übersetzung des englischen Superhits "Delilah" von "Tiger" Tom Jones wird Peter Alexander selbst zugeschrieben. Dass er das tödliche Eifersuchtsdrama dabei entschärft, verwundert nicht, was eher erstaunt, ist, dass er den brisanten Stoff überhaupt aufgegriffen und auf der Plattenhülle den gewohnten Anzug mit einer flotten Lederjacke vertauscht hat. Hieß es bei Tom Jones noch: "I felt the knife in my hand and she laughed no more", umschreibt der nette Herr Alexander den Mord an der untreuen Delilah diskret: "Sie aber lachte, und dann erhob ich die Hand, und sie war stumm." Die Zeile "I was lost like a slave, that no man could free" fällt gleich ganz fort, ebenso wie der weinerliche Wunsch des Mörders in der Originalfassung, Delilah möge ihm verzeihen, ehe die Polizei die Türe aufbricht. Sklavendasein und aufgebrochene Türen waren dem Schlicht-Romantiker Alexander wohl doch zu drastisch. Auf der B-Seite zieht er die Lederjacke dann endgültig aus. "Wenn wir uns mal streiten, ja, da dauert es nicht lang, wir zwei sind nun mal zwei, die sich verstehen. Wenn wir uns mal bös sind, dann versöhnen wir uns bald - die Versöhnung macht das Bössein erst schön", säuselt er. Erklären kann das in seiner ganzen Widersprüchlichkeit wohl nur das Entstehungsdatum der Single: 1968.
Da war Peter Alexander bereits 16 Jahre mit Hildegarde Haagen verheiratet. Sollte ihm da bei der neuen sexuellen Unübersichtlichkeit der Zeit das Messer in der Tasche aufgegangen sein, als er Tom Jones "Delilah" hörte, oder war gar ein zweiter Schatten zwischen Peter und seine Frau getreten? Sollte das Lied eine diskrete Warnung an die wilde Hilde gewesen sein? Wir wissen es nicht. Falls ja, hat es gut funktioniert, denn die zwei sollten sich noch weitere 35 Jahre in der Endlosschleife streiten und wieder versöhnen. Und ganz nebenbei hinterließen die zwei uns so dankenswerterweise eine der bizarrsten Singles der Achtundsechzigerbewegung!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen