Die Wahrheit: Der Zahlenheiler
Es gibt Menschen, die viel Geld für die Dienste des Doktor Kudosu zahlen. Der Doktor hilft Menschen Rätsel zu lösen und trägt graue Maßanzüge. Ein wahres Porträt.
In Japan kennt ihn mittlerweile fast jeder; und die meisten lieben den kleinen unscheinbaren Doktor, dessen einzige Auffälligkeit seine knallrot umrandete Brille ist. Dabei ist der, um den es geht, eigentlich kein Mann der großen Show. Ihn bringen nämlich vor allem falsche Resultate auf die Bonsaipalme.
Es begann vor Jahren während der täglichen Zugfahrt im Shinkansen zu seiner Arbeit als Mikadoprüfer beim Tokioter TÜV. Da hatte er sehr oft Menschen vor oder neben sich sitzen, die sich die Zugfahrt mit dem Ausfüllen eines Sudoko-Rätsels vertrieben. Was war das immer schrecklich, wenn er als scheinbar neutraler Beobachter das Unglück in Form einer vorschnell eingetragenen Ziffer kommen sah, und die Ratenden sich auch noch erwartungsfroh kurz vorm Ziel wähnten! Da tat Doktor Kudosu nicht nur die vergeudete Kulitinte leid. All der Ärger und die Enttäuschung der verhinderten Rätsler belasteten ihn schwer – bis er eines Tages auf eine Idee kam …
Vor ihm im Zug saß ein Geschäftsmann, der gerade mal wieder eine Ziffer („1“) falsch in sein Sudoku eingetragen hatte und über dem nun nicht mehr lösbaren Rätsel hörbar eingeschlafen war. Doktor Kudosu handelte sofort. Erst ließ er einen Klacks aus seinem Tipp-Ex-Fläschchen, das er immer mit sich führte, auf die inkriminierte Stelle niederregnen und überpinselte dann die falsche Eins, um schließlich mit seinem Kuli die korrekte 9 einzutragen und zuletzt das ganze Zahlenrätsel auszufüllen. Und weil der schnarchende Geschäftsmann von alledem gar nichts mitbekam, war die Freude groß, als der Mann kurz vorm Erreichen des Endbahnhofs erwachte und entdeckte, dass er das Rätsel geschafft hatte! Über das Wie schien er sich gar keine Gedanken zu machen.
Für Doktor Kudosu, den Mann mit dem immer akkurat gescheitelten Haupthaar, aber war es der Beginn einer neuen beruflichen Existenz. „Dr. sud. Masuko Kudosu – Facharzt für scheinbar unlösbare Rätsel“ heißt es heute auf dem Schild an seiner Praxistür, die nun tagein, tagaus von verzweifelten Sudoku-Lösern belagert wird. Oft ist der „Rätseldoktor“ (Tokio Times) die letzte Rettung für alle Sudoku-Süchtigen. Denn es ist eine Sucht, die manchen Patienten alle Rätsel lösen lässt, die ihm unter die Finger kommen. Viele werden auch von Sudokus in den Wahnsinn getrieben,wenn sie liegen gelassene Zeitungsseiten finden, auf denen unbekannte Vorgänger Sudokus angefangen und schließlich völlig die Kontrolle über das Zahlenwerk verloren haben. Dann kommen sie zu Doktor Kudosu und legen dem sanften Genie das kryptisch überstrichelte Zeitungsblatt vor, gegen das die Entzifferung eines Papyrus mit Keilschrift ein Kinderspiel ist.
Mit der täglichen Arbeit in seiner Einmannpraxis gibt sich der „Gute Mann von Sudokustan“ (Kyoto Post) aber noch lange nicht zufrieden! Gern ist der stets in graue Maßanzüge gekleidete Spezialist nach wie vor auch unterwegs, um in der U-Bahn oder auf Parkbänken mit seinem Korrekturset Operationen am offenen Rätsel vorzunehmen. Das geschieht meist unbemerkt, aber manchmal auch mit Duldung der Eisenbahngesellschaften. Wenn er etwa zwischen Kioto und Tokio unterwegs ist, kündigt ihn der Zugchef freudig als „mobilen Sudoko-Berater“ an, der „alle Reisenden bis zur nächsten Haltestellen mit frischen Lösungstipps versorgt“. Besonders die Fahrgäste aus dem Ballungsgebiet Kansai schätzen seine Hilfe und zahlen viel Geld, um seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Denn die Südjapaner gelten traditionell als nicht besonders helle und sind für ihre eklatante Rechenschwäche berühmt. Legendär ist der Fall eines Kiotoers, der auf die Frage eines Quizmasters im Fernsehen „Wie viel ist 2 und 2?“ antwortete: „22“.
Der gute Doktor Kudosu bleibt selbst in solch hartnäckigen Fällen seelenruhig und wartet, bis der verhinderte Rechenkünstler gescheitert ist. Dann tritt er aus dem Schatten und beginnt zu rechnen und zu rechnen und …
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