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Die WahrheitLyrik für Wahnsinnige

Kolumne
von Jan Ullrich

Prosa ist für Erdferkel, Lyrik für Bergsteiger – dieses einfache Wort ist ohne den ordnungsgemäßen Gebrauch von Nachtsichtgeräten und...

P rosa ist für Erdferkel, Lyrik für Bergsteiger – dieses einfache Wort ist ohne den ordnungsgemäßen Gebrauch von Nachtsichtgeräten und das fachgerechte Verkleben von Zeilenbruch kaum zu verstehen. Das wurde mehrfach untersucht, gilt als bewiesen und ist gleichzeitig eine Chiffre für das Weltkulturerbe, wenn man es in einem Rucksack trägt.

Aber auch sonst ist klar: Das Wort Quadrat wurde nur erfunden, weil es sich auf Spagat reimt. Pferde, die Sonette schreiben, können nicht mehr als Hering verarbeitet werden. Hymnen sind kein guter Zeitvertreib für Vasen, die Neutralität von Begriffen gilt in Oden über Gleitsichtbrillen oft als unbegründeter Zentralismus. „Poesie“, sagte schon Adam zu Eva, „können wir uns sparen.“ Trotzdem kennt jeder jemanden, der ein Goethe-Gesicht nachmachen kann.

Die Kraft der Dichtkunst ist dennoch weiterhin unbestritten: Der Expressionismus von Küchenmöbeln findet seinen adäquaten Ausdruck in der Lyrik von Pfandflaschen und Einmachgläsern. Mit Balladen kann man Bären töten. Elegien dienen zur Entfernung von Zahnstein bei Fischen. Doch aufgepasst: Menuette enden oft als Kannibalismus, tragbare Lehmbauten eignen sich nicht für Heldengedichte, ein Distichon, falsch zusammengebaut, verstellt schnell das ganze Wohnzimmer.

Nachttischschublade, Versuch macht klug, und Raum für Notizen gelten als besonders erotische Sexstellungen. Das Gleiche lässt sich sagen für: Nacht und Nebel, Mittagspause, Was meinst du mit „es machen“?, Magnettafel, Stil und Gedanke, so ungefähr, je nachdem, Datum, Anliegen, Ebenen, Proportion, Prinzipientreue, Präsenz und Schach oder auch Wesen im Dasein, Freiheit und Sicherheit, wissenschaftliche Theorie als Ort theoretischer Möglichkeiten, Versuchsanordnung für den Weltuntergang, Matthias Sammer. Eine blaue Blume besteht auch nur aus zwei aufgeblähten Blättern und einem hervorragenden Stängel. Trotzdem haben die genannten Positionen alle nichts mit Lyrik zu tun.

Gedichte aus Zweckgemeinschaften sind Allegorien für Enthaltsamkeit, Futterneid und Fugenkitt. Man kann nur tun, was einem in einer Situation möglich ist. Wer ständig Paarreime benutzt, der lässt sich auch mit seinem Hund fotografieren.

Ein Vers behauptet ein Ort im logischen Raum zu sein, ist aber nur deshalb zu verstehen, weil er der Welt abhanden gekommen ist. In einschlägigen Geschäften kann man deshalb Lyrik gegen Hypnose-Gutscheine und Halluzinations-Bons eintauschen. Sich nach einem schweren Unfall in ein verzerrtes Hotelzimmer zu begeben, bis alles wieder in Ordnung ist, ist aber kein Gegensatz, sondern völlig normal, obwohl es kein Unterschied ist.

Wahnsinn ist die Möglichkeit, Abschied von einem eingebildeten Dasein zu nehmen. Deshalb denkt der Mensch bei Metamorphosen immer an eine positive Veränderung, vor allem weil es Duschhaube und Schmetterling gibt. Erst das Unvereinbare aber ist ein Gedicht. „Vor dem Haus sitzt ’ne Laus!“ – das ist niemals schöner ausgedrückt worden.

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