Die Wahrheit: 1000 Tipps für ein gelungenes Frauenleben
Ich gründe meine Weltsicht hauptsächlich auf das Studium von Zeitschriften im Wartebereich meines Lebens. Immerhin muss ich als bundesrepublikanischer ...
I ch gründe meine Weltsicht hauptsächlich auf das Studium von Zeitschriften im Wartebereich meines Lebens. Immerhin muss ich als bundesrepublikanischer Durchschnittsmensch 18,1 mal pro Jahr zum Arzt, da kommt schon eine schöne Lektüre zusammen. Wie oft die durchschnittliche Deutsche zum Friseur geht, weiß ich nicht, auf jeden Fall häufiger als ich. („Machen Sie mir bitte diese zippelige Frisur, die in vier Wochen noch genau so scheiße aussieht wie gleich nach dem Schnitt.“)
Beim Arzt kann ich selbst das Blatt wählen. Das nützt allerdings nichts, wenn, wie bei meiner Frauenärztin, die jüngste Zeitschrift mir noch im März die tollste Herbstdeko anpreist und dabei aussieht, als ob die Ärztin sie bereits mehreren Patientinnen bei der Untersuchung unter ihre interessanten Teile gelegt hat. Ich glaube, das macht die Gynäkologin nur, damit man stattdessen ihre bunten Faltblätter liest – „Blasenkrebs für Anfänger“ und „1.000 Untersuchungen, die wir Ihnen extra aufnötigen, weil Ihre Krankenkasse nichts taugt“.
Beim Friseur muss ich dagegen schnell sein, sonst sucht die Friseurin mir Zeitschriften aus, die zu meinem Alter und meiner Frisur passen, also Gala oder Bunte. Ich will ja gar nicht die Nase rümpfen, so ist das Leben eben, aber ich kenne immer alle nicht, die in der Gala vorkommen, und dann kann mir die Friseurin genauso gut gleich wieder von ihrer Nachbarin erzählen, was ich ihr in den langen Jahren unserer Schnitt-and-Run-Beziehung gerade mühsam abgewöhnt hatte.
Andere Zeitschriften kann ich aber auch nicht lesen, weil ich rote Ohren kriege, und zwar nicht von der Trockenhaube, wenn mir die Friseurin über die Schulter sieht, wie ich gerade „1.000 Stellungen, mit denen Sie Ihr Liebesleben wieder flott kriegen“ studiere. Ich verlege mich jetzt meist auf Wohnzeitschriften, weil das irgendwie neutral wirkt. Wenn es – meist bei teuren Fachärzten – dekofreie Hochglanzarchitekturzeitschriften sind, habe ich nach einer halben Stunde das Gefühl, dass meine Wohnung mit meiner Frisur auf ungute Weise korreliert und außerdem Wohnen überhaupt sehr anstrengend sein muss, wenn man es mal richtig versuchen würde.
Neulich habe ich es immerhin bis zu Brigitte Woman gebracht, und war ganz erfreut, dass sich noch irgendjemand mich als Zielgruppe ausgesucht hat, musste dann aber unter den Tipps für ein gelungenes Frauenleben jenseits der 40 lesen, dass es eine gute Idee sei, die Arme nie mehr unbedeckt zu zeigen, weil sie einfach mit den Armen 25-jähriger Mädels nicht mehr konkurrieren können. Was soll ich sagen, meine Arme wollten noch nie mit jemandem konkurrieren. Der Gedanke ist mir ebenso fremd wie der, mein Wohnzimmer nach Jahreszeit zu dekorieren. Und wenn ich Brigittes Idee konsequent verfolge, dann müsste nach dem Umblättern eine interessante Auswahl von Tschadors oder Tschadoren oder Tschadorinen auf mich warten. Oder „1.000 langärmelige Rollkragenpullover, mit denen Sie ihr Liebesleben wieder flott kriegen“.
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