Die Wahrheit: Die Märchenbande
Schon als Kind war ich ein richtig harter Bursche. Schlafengehenszeit war automatisch Riot Time für mich – da kannte ich gar nichts, im Gegenteil ...
... Ich zog dann immer extra meine Phleg Martens mit den schweren Daunenkappen an, um dem Sandmännchen aber mal so was von richtig in den Arsch zu treten, bis es sich winselnd im Fernseher verkroch. Erst dann ging ich gefährlich murrend zu Bett, um am nächsten Tag fit für die Straße zu sein.
Die Straße: Meine Freunde und ich waren auf ihr praktisch zu Hause. Wir waren zu fünft: „Rotkäppchen“, die so hieß, weil sie den Opfern am liebsten mit dem Hammer auf den Kopf schlug, bis nur noch blutiger Matsch zu erkennen war. „Dornröschen“, den alle so nannten, weil er sich regelmäßig stachelbewehrte Dildos in den After rammen ließ – Mutprobe, aber auch Lustgewinn. „König Drosselbart“, der von hinten seinen langen Bart um den Hals seiner Feinde, meist wehrlose alte Omis, schlang und diese damit erdrosselte. Und, last but not least, „Aschenputtel“, der wohl berüchtigtsten Brandstifterin im ganzen Land. Kein im Hausflur abgestellter Kinderwagen war vor ihrer Pyromacke sicher, noch nicht einmal der eigene. Mich selber kannte man nur als „Der Messerschlumpf“.
Unsere Gang hatte es wahrlich nicht leicht, denn das Leben auf der Straße war zwar ausgesprochen aufregend, aber gleichzeitig voller Hindernisse: Einige unserer Vorhaben muss man deshalb eher im übertragenen Sinne sehen, weil das eine oder andere am Mangel an Material (Hammer, Dildo, Streichhölzer, Bart, Messer) scheiterte, doch eines Tages würden wir sämtliche Aktionen knallhart durchziehen. Das stand für uns felsenfest.
Zunächst hatten wir uns ja eigentlich die „Märchenbande“ nennen wollen, wegen unserer Affinität zu Märchen, insbesondere zu grausamen und brutalen Märchen, also Märchen, die wir cool fanden und die auf diese Weise in unser Profile passten. Auch der Vorschlag „Die heimlichen vier“ stand in der engeren Auswahl, doch wir fanden schließlich, dass das alles Kinderkacke wäre, und nannten uns die „Fucking Bastards“.
Irgendwie sahen wir uns als eine Art Oldschool-Punks, jedoch mit einem Einfluss aus Metal, einem kräftigen Spritzer Satanismus sowie einer Biogurkenallergie, die sich aus unserem gemeinsamen Hass gegen den Waldorfkindergarten nährte. Mit Buntstiften hatten wir uns Embleme auf Papier gemalt und ausgeschnitten, einen brennenden Teufelskopf, den wir auf unseren Streifzügen hinten an die Cordjacken hefteten, beziehungsweise Aschenputtel an ihr legendäres Kleidchen mit den rosa Maikäfern. Die von der Meierstraßenbande lachten uns zwar aus, das Abzeichen würde aussehen wie Pumuckel mit seinen roten Haaren, und nannten uns deshalb die „Pumuckelbande“, doch wir weinten daraufhin so laut und böse, dass sie ganz schnell wegrannten. Ein grandioser Triumph für die „Fucking Bastards“!
Wir besaßen alle völlig kaputte Backgrounds – das einte uns und machte uns hart. Drosselbarts Urgroßmutter war manchmal krank, Rotkäppchens Eltern hatten sich neulich gestritten und das Auto von Dornröschens Familie besaß keinen Allradantrieb. Meine Playstation wiederum stammte noch aus dem vorigen Jahr. Kein Wunder, dass wir tickende Zeitbomben mit Gummistiefeln waren.
Am krassesten war allerdings Aschenputtel drauf. Sie war sogar von Zuhause ausgerissen, musste allerdings bis spätestens 18 Uhr wieder zurück sein, wenn der Dinkelquark auf dem Tisch stand. Was Unpünktlichkeit betraf, verstanden ihre Alten keinen Spaß – es konnte sogar vorkommen, dass sie ein bisschen schimpften. Das wiederum bedeutete, dass Aschenputtel bis dahin ihr Quantum an abgefackelten Buden erledigt haben musste, und das auch noch am helllichten Tag, was das Risiko nicht unbeträchtlich erhöhte.
Wir gingen ihr natürlich zur Hand, so gut wir konnten. Ehrensache, wir waren doch eine Bande, wir waren doch die „Fucking Bastards“. Also klingelte immer einer von uns an dem Haus, das Aschenputtel anzünden wollte, zwei standen Schmiere und einer fragte einen Erwachsenen nach Streichhölzern. Die bekamen wir zwar nie, aber das war nicht so schlimm, weil sowieso keiner aufmachte. Es war klar, dass sie sich vor der Gefahr verbarrikadierten, denn das ganze Viertel zitterte vor uns, spätestens seit der großflächigen Schutzgelderpressung zu Halloween. Das machte aber nichts, denn wir konnten warten, wir hatten unendlich viel Zeit. Zur Schule gingen wir ja noch nicht.
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