Die Wahrheit: Weazles böse Nacht
Die ergreifende Geschichte vom herzlosen Sceedlebee und den ungezählten Eiern des vergangenen Ostern.
Scrabbleton war tot, damit wollen wir anfangen. Ein Zweifel darüber kann nicht statthaben, schließlich habe ich es geschrieben. Weazle Sceedlebee, Scrabbletons Kompagnon seit mehr Jahren, als beider Notarskanzlei Stempel und Siegel hatte, erfuhr vom Hinschied des Teilhabers am Abend vor Ostern.
Er saß im Kontor, beim geizigen Schein einer einzigen Kerze, die freilich Gewitterwolken aus Ruß unter die Decke hängte, als der Bürogehilfe, Sceedlebees Neffe Nicholas Nucklepie, hereinstürzte, vom Rennen rot erhitzt wie ein Scheit im Kamin, und die Botschaft vom letzten Atemzuge Scrabbletons atemlos überbrachte. Beim Aufschichten eines Osterfeuerhaufens unten an der Themse habe der Advokat sich etwas zu hoch hinaufgewagt, und dann sei er hinuntergeplumpst auf die Ufersteine wie ein reifer Apfel, der dann leider nur noch fürs Kompott tauge. Der Apfel, fügte der arme Junge hinzu, nicht Mister Scrabbleton!
„Schon verstanden, Nucklepie, du Einfaltspinsel“, brummte Sceedlebee, ohne auch nur aufzublicken von einer Liste, die er studierte wie die heilige Schrift. Es war aber bloß die Aufstellung aller Waisenkinder, die er der Obhut von Mistress Salome Stickquick überantwortet hatte, nicht ohne daran einen Batzen harter Schillinge zu verdienen. Denn die Jungfer verdingte die kläglichen Waisen, Kloaken im Schlachthof mit ihren kleinen Zungen zu reinigen, was ein ebenso schmutziges wie glänzendes Geschäft abgab.
„Na, was flennst du denn, Nucklepie!“, fuhr Sceedlebee den Neffen an. „Der eine lebt, der andere stirbt, was gilt’s?“ Und mit einem Blick, so finster wie der Grund seines Tintenfässchens, verjagte er den tränennassen Jüngling aus dem Kontor. Das Herz des Alten pochte stumpf und ungerührt wie ein Holzwurm unter den rohen Balken seines Brustkorbs. „Was hatte Scrabbleton, der Narr, auch bei dieser Belustigung verloren!“, schimpfte Sceedlebee. Und weil ihm vor Wut der Bauch schmerzte – bei vielen Knickern die Heimstatt von Gemüt und Moral –, beschloss er, ins Bett zu gehen.
Tief in der Nacht war’s, da fuhr Weazle Sceedlebee aus dumpfem Schlummer auf. Ein starker Windstoß hatte mit Scheppern das Fenster aufgestoßen. „Zum Henker!“, rief der Notar halb erschrocken, halb erzürnt. Mondlicht fiel bleich wie Knochen in die Kammer. Sceedlebee wollte sich gerade aus den Kissen stemmen, um die Luke zu verriegeln, als ein Schatten auf ihn fiel. Ein riesiger Schatten war das, und nicht der eines Menschen. Ohren, geformt wie Suppenkellen, stachen vom Kopf ab, und was den Armen der Gestalt an Länge mangelte, hatten die kräftigen Beine zu viel. „Wer da?“, wollte Sceedlebee schreien, konnte jedoch kaum krächzen. War dies eine Nachtschimäre, geboren aus der Unbill seiner Verdauung?
„Ich bin der Geist des Osterfestes“, versetzte die Gestalt und trat ins fahle Licht jener Lampe, die der Schöpfer am vierten aller Tage für immer unters Firmament gehängt hat. Ein Hase stand da, größer als ein Gardist des Königs, und er schleppte auf dem braunpelzigen Rücken eine fassgroße Kiepe, die – seltsam, Leser, doch wahrhaftig – bis über den Rand mit bunten Eiern gefüllt war.
„Heb dich fort, scheußlicher Alb!“, quiekte Sceedlebee, doch der titanenhafte Nager sprach: „Wisse, Weazle, ich bin hier, um dich zu warnen! So du nicht ablässt von deiner Selbstsucht und Habgier, sollst du auf dieser Erde keinen Penny mehr raffen, ohne alle um dich herum daran zu mahnen, dass jener Cäsar doch im Irrtum war, der verkündete, Geld stinke nicht. Die Weiber werden dich meiden, die Männer verachten, die Kinder verhöhnen – und du selbst wirst dir ein Gräuel sein.“
„Feine Drohung …“, flüsterte Sceedlebee, dem schon gar nicht mehr so bange war. Er hatte nämlich die Stimme des Hasen erkannt, und jetzt, schneller, als man diesem greisen Manne zugetraut hätte, sprang er auf, riss an den Ohren seines späten Gastes, und, siehe!, der Hasenkopf riss ab, und darunter kam das gute Gesicht seines Neffen zum Vorschein. „Nucklepie, du verflixter Lümmel“, brüllte Sceedlebee, „ich werd dich lehren, mich heimzusuchen!“
Aber der Junge stolperte vor Entsetzen vornüber und übergoss seinen Onkel aus der Kiepe mit ungezählten Eiern, die wohl schon zu Ostern des verflossenen Jahres ihren fleißigen gefiederten Müttern entrissen worden waren. Ein pestilenzhafter Odem stieg in der Schlafkammer auf und drang dem Notar bis ins Mark, und für die folgenden Wochen immerhin ging Master Nicholas’ Prophezeiung in Erfüllung. So schließen wir mit den Worten einer Figur, die in dieser Geschichte sonst keine Rolle spielt: Zu jedem falschen Hasen gehört ein echtes Ei!
(MIT DANK AN CHARLES DICKENS)
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