Die Wahrheit: Seeschlachten im Binnenland
Rumkugeln mit Seeknödeln, Meerpillen und Lärchennadelbällen.
Ein seltsames Phänomen an den Stränden beschäftigte den Strandwanderer seit alters her: Die sogenannten Seebälle, faserig verfilzte kleine Kugeln, die am Ufer angeschwemmt werden.
Man nennt die Filzkugeln auch „Meerpillen“, „Faserbälle“ oder „Seeknödel“. Bisweilen können die kleinen Faserkugeln zu meterhohen Wällen aufgeschichtet werden und kilometerlange Spülsäume bedecken.
Im Jahr 1962 wird im Kosmos-Heft berichtet, dass die „eingeborenen Fischer von San Vincenzo keine anderen Auskünfte geben können, als dass sich die Bälle im Meer bilden, und mit dieser Erklärung geben sie sich achselzuckend zufrieden“. Deutlich interessierter ist Abul Abbas aus Sevilla, auch „der Pflanzenkundige“ genannt. Er berichtet bereits 1216, dass die Araber die Filzglobuli in der Zahnheilkunde einsetzten, lange vor dem heutigen Gebrauch der Globuli in der Homöopathie.
Die „Oeconomische Enzyclopedie“ von 1773 weiß nichts Genaues vom Meerball. „Was er sey und woher er entstehe, darüber sind die Meynungen so verschieden als zweifelhaft. Einige meinen, er sey geronnener Meeresschaum und wieder andere, er werde im Magen eines Fisches aus den Zasern des verzehrten Schilfs erzeugt.“
Hübsch gemutmaßt, aber leider falsch. Wie wir heute wissen, verdanken die meisten Faserbälle ihre Entstehung dem Laichkrautgewächs Posidonia, das durch die Brandungswogen zuerst zerfasert und dann zu kleinen Kugeln geformt wird.
All das würde heutzutage niemanden mehr groß interessieren, wenn nicht junge Strandläufer die Kugeln für sich als großen Freizeitspaß entdeckt hätten. In großen Pulks liefern sie sich regelrechte Seeballschlachten, nach denen der Strand aussieht, als hätte man mehrere Dutzend Biotonnen über ihn ausgeleert.
Die hedonistischen Hooligans der Strände fanden bald ebenfalls heraus, dass man auch im Binnenland nicht auf das Vergnügen der Seeballschlachten verzichten muss, denn auch fern der Weltmeere findet sich ein wunderbares Äquivalent der maritimen Kugeln, nämlich Lärchennadelbälle! Die pieken auch beim Werfen und machen noch mehr Spaß.
Der Vater der Lärchennadelballbewegung ist „Knödel“ Morton, der schon 1924 im „Jahresbericht des Oberösterreichischen Musealvereins“ die ersten Lärchennadelberichte veröffentlichte. Unter dem Titel „Die Hallstätter Seekugeln“ berichtet er begeistert von einem Prachtstück im Jahr 1963: „Vollkommene Kugel mit einem Durchmesser von 14,2 cm. Schwer und sehr fest. Das Gebilde ist wie gedrechselt.
Die Nadeln sind, wie das meist der Fall ist, radial angeordnet, nur peripher sind einige tangential verwoben.“ Anschließend lieferte er sich eine übermütige Schneeballschlacht mit einem gewissen Herrn Dr. E. Hehenwarter, der ihn zur Fundstelle gefahren hatte. Wie hätte Morton dann erst der famose Seeball von Edgartown, Massachusetts, gefallen, der immerhin 45 Zentimeter Durchmesser aufwies!
Die Hotspots der jungen Seeballschlachtgemeinde werden wie Geheimtipps gehandelt, und man scheut sich fast, sie an dieser Stelle preiszugeben. Zentrum der Schlachtenbummler ist das Hotel Ramada Liberty Resort in Tunesien, das sogar mit einem Seeballfoto im Internet wirbt.
Zu kommerziell für die meisten, die lieber nach San Vincenzo, Grosseto oder Livorno in der Toskana fahren. In Österreich sind der Offensee und der Hallstatter See das Nonplusultra, auf Mallorca sucht der Kundige die Bucht Maedia auf, und der absolute Geheimtipp ist Sämsjön in Västergotland, Schweden.
Die Krone aber setzt der Seeballverwertung – wie kann es anders sein – der Asiat auf: Die „Feng Shui News“ bieten Seebälle sogar als „natürliche Gebäudedämmung für Allergiker“ an. Was für eine Verschwendung!
(Foto von http://www.myheimat.de/)
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