Die Wahrheit: Todesritt im Kadett
Zu seinem 18. Geburtstag bekam Jacko einen goldenen Opel Kadett, Jahrgang 77, vor die Haustür gestellt. „Fahr vorsichtig“, hatte ihn sein Vater gewarnt.
Z u seinem 18. Geburtstag bekam Jacko einen goldenen Opel Kadett, Jahrgang 77, vor die Haustür gestellt. „Fahr vorsichtig“, hatte ihn sein Vater gewarnt. „Einen zweiten kriste nicht.“ Das fiel Jacko nicht ganz leicht, denn die Karre besaß volle 75 PS, und sein unverhohlener Stolz wirkte sich durchaus positiv auf sein Fahrtemperament aus. „Heckantrieb, der liegt wie ein Brett“, ließ er im Oberstufenraum verlauten, und wir Golf-1-Fahrer reimten neidvergilbt: „Nett und adrett / im güldenen Kadett.“
Wir lebten im VW-Vorland. Man besaß hier einen Jahreswagen und eine Fahrgemeinschaft, die sich wechselseitig zur Produktion brachte. Und wir Söhne taten es ihnen nach. Das erklärt, warum uns alle drei Wochen, als wäre es gottgewolltes Schicksal, Jackos Goldbomber zum Gymnasium und wieder retour spedierte – und niemals bekam sein Blaupunkt etwas anderes zu fressen als „Rebel Yell“.
Wir überstanden den langen Sommer, wir erduldeten den Herbst, aber als ich in den ersten grauen Wintertagen am Montag aufwachte mit der Aussicht auf eine weitere Woche „In the midnight hour, babe, more, more, more …“, da ließ mich blanker Hass erzittern, und ich griff noch vor dem Frühstück in den Kassettenstapel. Als mich Jacko eingeladen hatte, nahm ich schweigend sein Tape aus dem Deck und schob „Death Rider“ von Omen ein, den grandiosen Opener des Debütalbums „Battle Cry“, von dem 1984 noch so recht keiner ahnte, dass man dereinst „Klassiker des US-Power Metal“ dazu sagen würde. „Death rider you’ve taken the earth by storm / death rider out of sin and hatred you were born …“
Scheiß auf den Sinn, und Kette gegeben! Das dachte sich jedenfalls Jacko, der was von „ein Glück, zwei Grad plus“ murmelte und dem goldigen Schlachtross ordentlich die Sporen gab. Aber plötzlich schien es zu glitzern auf der Fahrbahn. „Ach, das ist nur Streusalz …“, schrie Jacko gegen die Musik an und tippte kurz auf die Bremse, was prompt das Heck des Goldschätzchens ausbrechen ließ. Er reagierte so, wie man nun mal reagiert, wenn man ein Auto fährt, das wie ein Brett auf der Straße liegt, er ging vor Schreck in die Eisen.
„Hör auf zu bremsen“, gab einer zu bedenken. „Ich brems schon gar nicht mehr, mir wird schon ganz anders“, retournierte unser Fahrer zu recht, denn nun drehten wir einen einfachen Toeloop, der uns schnurstracks in den anderthalb Meter tiefen Drainagegraben bugsierte. Mein Hintermann riss hektisch die Nackenstütze meines Sitzes ab, versuchte über meine Schulter zu klettern, um als Erster aus dem Zweitürer zu kommen. „Raus hier, die Kiste explodiert!“
Wir ließen uns anstecken von der Hollywoodpanik, nestelten hektisch an unseren Sicherheitsgurten herum, purzelten übereinander, krabbelten auf allen Vieren ins Freie. Und während wir oben langsam wieder zu Atem kamen, schaffte sich der Shouter J. D. Kimball da unten im Graben so richtig rein in den Chorus des Titelstücks „Battle Cry“: „The smell of death lingers in the air / bloodstained bodies scattered everywhere …“ Wir bogen uns vor Lachen. Bis auf Jacko, dem wurde gerade ganz anders.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!