Die Wahrheit: Die zufällige Ferie
Extreme Sicherheitsvorkehrungen bei der Übersetzung von J. K. Rowlings Neuerscheinung.
Als einer der handverlesenen Übersetzer von J. K. Rowlings Neuerscheinung „The Casual Vacancy“ bin ich extremen Sicherheitsvorkehrungen ausgesetzt. „Schummeln verboten“, machen schon die Überprüfungen im Vorfeld klar.
Mein Telefon wird verwanzt und die Geburtsurkunde mit der Laserkanone geröntgt. Auf giftgrünen Formularen kreuze ich an, dass ich Harry Potter hasse, kein Englisch kann und noch nie an einem Vernichtungskrieg teilgenommen habe. Auch die medizinischen Tests überstehe ich erfolgreich, da mich meine alkoholinduzierte Demenz schon im Nebensatz des eben gelesenen Hauptsatzes und so weiter. Am Ende müssen wir Übersetzer eine notarielle Beglaubigung einreichen, dass wir nichts hören, nichts sehen und nichts sagen. Nach Möglichkeit auch nichts übersetzen, obwohl die fertige deutsche Ausgabe natürlich zackig vorliegen muss – „Fifty Shades of Grey“, ein schwieriger Graubereich des Machbaren.
Nach der Vereidigung werde ich von Verlagsmitarbeitern in langen Mänteln und Sturmhauben unangekündigt von zuhause abgeholt. Noch in meiner Wohnung binden sie mir ein Tuch über die Augen und tackern es an den Ohren fest. Anschließend werde ich in einem, den Geräuschen nach zu schließen, fensterlosen Lieferwagen stundenlang durch die Gegend gefahren. Es gibt kaum ein paar Meter ohne Richtungswechsel. Einmal meine ich, Schüsse zu hören – kann sein, dass wir verfolgt werden, die Reifen quietschen, das Gefährt schlingert, ich schlage unkontrolliert mit dem Kopf an die Innenwand.
Dann steigen wir aus. Vogelgezwitscher ist zu hören und Bärengebrumm. In der Ferne ein Wasserfall, irgendwo bellt ein Hund. Kräftige Hände drehen mich eine Minute lang um mich selbst, bis mir ganz schwindlig ist. Nun weiß ich wirklich nicht mehr, wo ich bin. Danach werde ich zum Flughafen gebracht und in ein Flugzeug gesetzt. Ich nehme mal an, nach London, wo sich ja, wie jedes Kind weiß, das Verlagsgebäude der Brown Book Group befindet.
Dort dann dasselbe Spiel: eine rasende Irrfahrt mit verbundenen Augen in einem geschlossenen Fahrzeug. Am Verlag angekommen, werde ich in den Keller geführt und zur Arbeit in eine vergitterte Gummizelle eingesperrt. Ich muss mich ausziehen und werde durchsucht. Stift, Papier und Schnürsenkel werden mir abgenommen, bevor ich mit einem glühenden Eisen geblendet werde. Auch die Spiegelung von Magen, Darm und Harnröhre sowie das Entfernen der Zahnkronen sind nicht ganz angenehm, doch die Einsicht in die Notwendigkeit und das große gemeinsame Ziel dämpfen den Schmerz. Aus den Nebenzellen dringen die gellenden Schreie der anderen Übersetzer – ich identifiziere Italienisch, Finnisch und Esperanto. Vor der Tür wachen Eunuchen.
Die Originalausgabe bekomme ich nicht zu Gesicht. Verständlich, die können hier auch nicht jedes Risiko eingehen. Angesichts der Ehre, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, ist das doch eine Lappalie. Denn es versteht sich von selbst, dass zur absoluten Crème de la Crème im Übersetzungsbusiness gehört, wer es schafft, gefesselt und geknebelt in einem winzigen Raum, der unablässig mit dem Lärmpegel einer startenden Düsenmaschine beschallt wird, unter ständigen Schlägen, blind und ohne Englischkenntnisse eine nicht vorhandene Vorlage ins Deutsche zu übertragen. Da ist neben einem mehr als soliden Handwerk Improvisationskunst und Phantasie gefragt:
Eine zufällige Ferie. Peter, Paul und Mary freuen sich echt total. Da ist die eine Ferie grad vorüber, schon gibt es ganz zufällig eine nächste. Der Lehrer hat gesagt, dass zwei Ferien einfach besser sind als eine, wegen der Erholung. Alle Kinder rennen kreischend aus dem Schulgebäude. Nur nicht Barry Fairbrother …
Per Klopfzeichen erfahre ich, dass in der Nacht oder am Tag – das ist für uns längst nicht mehr auszumachen – der albanische Übersetzer gestorben ist. Schlappschwanz. Aber kein Problem. Das kann ich gerne auch noch übernehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“