Die Wahrheit: Martin Walsers Tagebuch gefunden!
November, Chicago, Hancock Building, 95. Stock. Gegen 17 Uhr
N ovember, Chicago, Hancock Building, 95. Stock. Gegen 17 Uhr
Die Sonne blinzt für einen Moment in das Fenster hinein, Café überfüllt. Man spricht amerikanisch. Hatte Blueberry-Muffin und ein Café Caramel, unsägliches Zeug. Verklebt den Magen. Kein Wunder, dass die in diesem Land immer auf die größten Bluffer reinfallen, bei der Ernährung! Kein Vitamin, nirgends!
Aber der Ausblick! Welch Wonne für die Sinne, trotz der Perlenschnüre Regens. Blick auf ein müde dämmerndes Tier. Der Nebel drückt die Dächer schwer. Und dieses Colorit! All Shades of Grey: Taubengrau, Stadtgrau, Silbergrau, Mausgrau, Mauergrau, Todgrau, Seelengrau, Wie-mein-Haar-Grau, Graugrau, Hundstagegrau.
Sollte Novelle schreiben: „Chicago Grey“. Könnte von Mann handeln, in der letzten Periode seines Lebens, der in der vor ihm liegenden Stadt sein Leben erkennt. Jedes erleuchtete Fenster eine Episode. Oder eine Frau. Aber der Magen. Muss mich dringend niederlegen. Hoffe, die Fahrt mit dem Aufzug tut nicht das Ihrige.
Chicago, Peninsula Hotel
Morgen Abfahrt. Gestern im Charlie Trotter’s mit Lolek und Bolek und meinem Verleger zu Abend gegessen. Hatte mir die Namen notiert, kann aber Zettel nicht mehr finden. Was nichts macht, waren eh nur die üblichen Literatur-Blasierten. Wenigstens stimmen sie mit mir überein, dass Paul Auster maßlos überschätzt ist.
Am Nachmittag im Aquarium gewesen. Die Haie kreisten grimmig wie unterbezahlte Personenschützer im Becken. Habe mir auf dem Rückweg ins Hotel einen Jumper gekauft. Einen für die Übergangszeit. Dunkles Rot, Strick mit Rauten. „Übergangszeit“ wieder so ein schönes Wort.
Könnte ein guter Titel sein. Die Geschichte könnte von einem Mann handeln, dem in der letzten Lebensphase ein alter, roter Pulli in die Hände fällt, mit einem losen Faden. Er zieht daran und während sich Masche für Masche löst, leuchten die Episoden seines Lebens in seiner Erinnerung auf. Oder die Frauen. Der „rote Faden“ der Erinnerung!
Im Flugzeug auf dem Weg nach Boston
Stehen nun schon seit 65 Minuten auf dem Rollfeld. Unklar, warum die Maschine nicht abhebt. Die Stewardessen verteilen Erfrischungstücher. Aber was nützt die Frische dem, der Fliegen will? Beobachte die Eleganz der Flugzeug-Einweiser. Wie sie tänzelnd die großen Vögel lenken, mit ihren Kellen Zeichen in die Luft skribieren. Keine Worte, nur lautlose Gesten, einem Flügelschlag gleich. Stumme Diktatoren. Flughafenballett.
Zu Hause, November
Mein Magen ziept und zerrt. Das Reisen setzt mir mehr und mehr zu. Einen jeden Kilometer büße ich mit einer Minute Magenkrampf. Hilde hat mir Kirschkernkissen gebracht. Aber was soll der Kern, wenn die Kirsche faul? Der Arzt sagt, ich solle ein paar Tage ruhen. Lange Spaziergänge, genügend Schlaf und kein Zucker. Und vor allem: keine Termine. Seine Empfehlung kommt mir insofern zupass, als dass mich sowieso alle vergessen zu haben scheinen. Sollte vielleicht mal wieder was zum Antisemitismus sagen.
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