Die Wahrheit: Tabletten, ich hätte gern...
...meine Tabletten. Ich habe PASAK. Fiese Sache, das.
I ch habe PASAK. Fiese Sache, das. Wie, kennen Sie nicht? Tja. Hätten Wissenschaftler nicht irgendwann die schlimme Krankheit ADHS entdeckt, würden wir ihre Symptome heute noch der einfachen Hibbeligkeit zuschreiben. Mitfühlende Apothekerinnen verbrächten schlaflose Nächte, weil sie nicht wüssten, welche Tabletten sie ihren händeringend um Abhilfe bittenden Kunden anbieten könnten.
Und was Generationen vor uns für Trödelei gehalten haben, muss seit ein paar Jahren professionell als Prokrastination angesprochen werden – eine Art innerer Rangierbahnhof der Prioritäten, auf dem alle Weichen falsch gestellt sind. Nun habe ich endlich auch an mir Symptome entdeckt, die förmlich nach einem neuen psychosozialen Krankheitsbild krähen.
Alles begann vor einem halben Jahr, als ich auf eine Mail meines besten Freundes nicht, wie üblich, sofort antwortete. Vielleicht war ich gerade hibbelig, vielleicht prokrastinierte ich an diesem Tag, ich weiß nicht mehr. Nach einer Woche hatte ich seine Mail schlechterdings vergessen, und als ich mich nach vier Wochen wieder daran erinnerte, hatte sich in diese Erinnerung schon das grüne Gift des schlechten Gewissens gemischt. Besser, ich wartete noch eine Woche ab, womöglich würde er sich ja von allein bei mir melden.
Nach drei Monaten der Funkstille beschlich mich allein schon beim Gedanken an meinen Freund eine ausgewachsene Scham. Es war die Zeit nicht ereignislos verstrichen, allerlei hätte ich ihm berichten können, allein: Wie sollte ich es anstellen, ohne diesem überfälligen Lebenszeichen meinerseits eine wortreiche Erklärung meiner Saumseligkeit als exkulpierende Präambel voranzustellen? Vor meinem inneren Auge sah ich ihn kopfschüttelnd auf und ab schreiten, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, das Telefon im Auge behaltend, sich so seine Gedanken machend.
Nach vier Monaten war das, was ich meinem Freund dringlich hätte erzählen wollen, bereits auf das Volumen einer Doktorarbeit angeschwollen. Während ich selbst, um mein rätselhaftes Schweigen wenigstens im Ansatz rechtfertigen zu können, inzwischen mindestens tot sein müsste.
Beim Gedanken an diese fatale Angelegenheit brach mir zuverlässig der kalte Schweiß aus, und irgendwann griff ich zu später Stunde, gut beraten von Freund Alkohol, kurzerhand zum Telefon – und wählte die Nummer meines Freundes. Es klingelte. Einmal, zweimal, drei- … erleichtert legte ich auf. Ich hatte es wenigstens versucht.
Die folgenden Monate verbrachte ich wie im Delirium, an kaum etwas anderes mehr denken könnend als daran, wie mein ehemaliger Freund, inzwischen längst zum Intimfeind gereift, perfide Rachepläne gegen mich schmiedete – bis die erlösende Mail kam, in der er sich für sein „Totstellen“ mit den gleichen guten Gründen rechtfertigte, die ich hätte geltend machen können. Es ist eine neue Krankheit, verdammt. Es handelt sich um eine „Progressive Akkumulation von Schuld aus akuter Kommunikationsinsuffizienz“ (PASAK).
Darf ich jetzt bitte endlich meine Tabletten haben?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?