Die Wahrheit: Strukturiertes tête à tête
Neuerdings gibt es laut der Modeberichterstattung einen „unstrukturierten Anzug“. Also flugs einen gekauft und mal sehen, wie er wirkt.
K ennt wohl jede, jeder: Man liest etwas, dessen Gegenstand einen rein gar nichts angeht, liest weiter und ein Absatz oder ein Ausdruck springt einen an, der einen elektrisiert.
Der Zeitungsartikel neulich, dessen Materie mir gänzlich fremd war und mich zugleich in den Bann zog, handelte von der aktuellen Herrenmode, genauer gesagt: von dem Anzug, den die Männer von Welt heute tragen oder zu tragen haben. Die gegenwärtige – Obacht! – „Anzugästhetik“ sei geprägt von einem „ebenso paradoxen wie populären neuen Merkmal, es nennt sich: unstrukturiert.“
Wie solch ein unstrukturierter Anzug daherspaziert? Bitte schön: „Einreihiges, unstrukturiertes Jackett mit zwei bis drei Hornknöpfen zu einer Hose ohne Bügelfalten, das ist der Anzug, wie ihn alle zeitgeistigen Herrenausstatter derzeit führen.“ Durch diesen Stil, heißt es weiter, sei es gelungen, „den Anzug zu defragmentieren und wieder zu einer simplen Angelegenheit zu degradieren“. Schau einer an.
Unstrukturiert! Die Vokabel „defragmentiert“ in diesem Zusammenhang nimmt sich auch sonderbar genug aus; jedoch das wohl zumeist als Schmähwort verwendete Adjektiv „unstrukturiert“ endlich mit einem günstigen Beiklang zu versehen, packte mich pfeilgrad an, in meiner Eigenschaft als Autor zumal.
Ein fein gesponnenes Netz
Grundieren wir die Vermutung, ziehen ein Synonymlexikon zu Rate und schlagen „unstrukturiert“ auf. Wir stoßen unter anderem auf: chaotisch, formlos, ungegliedert, gestaltlos, ungestaltet und – besonders schick – amorph.
Ich schätze, diese Wörter boten sich auch jener Zuhörerin an, die unlängst nach einer Lesung auf mich zukam. Welches sie wählte? Zunächst meinte sie, der Abend habe ihr ganz gut gefallen. „Aber irgendwie, ich meine, also, Ihre Geschichten sind manchmal so unstrukturiert.“
„Na-hein“, sagte ich ungewohnt schlagfertig und führte aus, einerseits schienen manche Texte ja unstrukturiert zu wirken, doch die Arbeit daran sei es nie. Ferner sei jede vermeintliche Unstrukturiertheit ein feingesponnenes Netz, mit teils wuchernden, teils verschlungenen, aber schwerelosen Arabesken. Drittens trage doch unser Alltag, ob analog oder digital, und „das Leben an sich“ (o ja, drunter machte ich es nicht), in gewisser Hinsicht überwiegend unstrukturierte Züge, man deshalb probehalber von einem prekären Realismus zwischen Melancholie und Komik sprechen könne, der sich zwar nicht eins zu eins, aber mittelbar auch in Erzählungen widerspiegelt.
Nichts dergleichen habe ich der jungen Frau gegenüber gesagt. Stattdessen druckste ich herum. Man vermag doch beinahe nie Vernünftiges, nur Idiotisches über die eigenen Texte zu sagen. Ich sagte schließlich, wir könnten ja auf ein Getränk „das noch mal durchgehen“. Sie sagte nicht nein.
Von dem Honorar erstand ich – man ahnt es – einen unstrukturierten Anzug und warf mich in diese Schale, als wir uns trafen. Ihr diese Unstrukturiertheit zu erläutern, erleichterte den Einstieg in einen Abend, der sich intuitiv blendend gemeinsam strukturieren ließ.
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