Die Wahrheit: Schiefstand im Hirn
Die Bahn. Die Rüstungsindustrie. Remoulade auf belegten Brötchen. Für Hochleistungsneurotiker lauert die alltägliche Paranoia allüberall.
Die Zeiten sind schwierig, die Menschen unsicher. Wem kann man heute noch Vertrauen schenken? Allein die Zugreisen in diesem Land: Die Bahn sorgt für Verspätungen, die wir dann mit dem Handy melden müssen. Den Gewinn an den Gebühren teilen sich die Mobilfunkbetreiber mit der Bahn. Vermutlich.
Das ist eine lupenreine bahntraumatische Belastungsstörung. Und die Fluggesellschaften erlauben derweil immer weniger Gepäck – statt schwer wiegenden Büchern muss man sich also ein Kindle besorgen oder irgendein anderes teures Lesegerät. Den Gewinn teilen sich die Fluggesellschaften und die Gerätehersteller. Vermutlich.
Dass der Autokorso von einem Mineralölkonzern erfunden wurde und die Karnevalsumzüge von der Pharmaindustrie – schließlich sind am Aschermittwoch alle erkältet oder zumindest von Kopfweh geplagt – geschenkt. Ist das schon Paranoia? Vermutlich.
Von der Rüstungsindustrie, die Kriege lanciert, um ihr Gerät loszuwerden, will man gar nicht erst anfangen. Es gibt dringlichere Themen: Remoulade auf belegten Brötchen – hier arbeiten Bäckereien Hand in Hand mit den chemischen Reinigungen. Die Mayosutsche macht den Belag rutschiger, damit die Tomaten- oder Gurkenscheibe zwischen den Brötchenhälften herausschießen und die Kleidung besudeln kann. Bingo!
Ein Land von ausgelassener Freude
Seit Gustl Mollath werden wir eh immer unsicherer, so viel steht fest. Wir leiden unter der PIN-Code-Vergessangst, die überschattet wird von der Passwort-Entfallangst. Dabei sind alle Daten längst vernetzt. Das neue Apple-Hauptquartier in Cupertino wird ein Rundbau, da können sie besser zirkulieren, die Daten, was letztlich dem Verbraucher zugutekommt. Wenn Sie zum Beispiel in einer Mail schreiben, Sie würden Ihren Partner am liebsten abstechen, haben Sie kurze Zeit später schon eine Werbe-SMS mit einem verlockenden Angebot an Schnappmessern auf dem Handy.
So lassen wir uns treiben von Alltagsängsten, von Berufsdefekten. Bademeister haben Angst vor Beckenschiefstand, Models vor Stoffwechselkrankheiten. Andere wissen nicht genau, wie es um ihr Nervenkostüm bestellt ist. Dieses ständige Infragestellen macht uns wahnsinnig. Die Zeiten sind nicht einfach, nicht einmal für Hochleistungsneurotiker. In diesem Land diskutieren sie eher über Sterbehilfe als über Lebenshilfe. Ein Land von ausgelassener Freude, anders gesagt: Die Freude wird ausgelassen.
Die einen wollen sich gleich irgendwo hinhängen, um wenigstens mal die Seele baumeln zu lassen. Die anderen sind völlig haltlos und gehen zum nächsten Befestigungstherapeuten. Entweder, man fasst wieder Tritt oder man fasst wieder einen Tritt. Religion? Auch kein Trost. In keinem U.S.-Bundesstaat werden mehr Antidepressiva verkauft als in der Mormonenhochburg Utah.
Vielleicht läuft aber auch einfach alles so weiter und es passiert gar nichts. Denken Sie trotzdem immer daran: Nicht eingetretene Ereignisse ziehen eine ganze Kette von ausgebliebenen Folgen nach sich.
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