Die Wahrheit: Ein grober Klotz aus reinem Nichts
Es gibt Tage wie die vom 1. bis zum 49. April, die manchmal zu Monaten oder Jahren anschwellen. Und Wolfenbüttel ist überall.
Tastenficker“, „Mein Leben als Affenarsch“, „MösenMonat März“ – anlässlich der zwei aktuellen Buchtitel und jener Veranstaltungsreihe könnte ich womöglich erforschen, seit wann Redaktionen Begriffe dieser Art drucken anstatt sie durch Auslassungspunkte zu ersetzen oder zu ignorieren, verstünde ich mich als feinsinnigen Menschen. Danach unterhielten wir uns über Bedeutungswandel, über vermeintliche Freizügigkeit, dito Vulgarität, dito Enttabuisierung und so weiter. Da ich mich aber eher als groben Klotz empfinde, lasse ich diesen, ähem, Diskurs beiseite.
Es gibt Tage wie die vom 1. bis zum 49. April, die manchmal zu Monaten oder Jahren anschwellen, da interessiert einen auch weder die Mautgebühr-Kontroverse noch die um das neue Album von Madonna. Gleichfalls misslingt mir, eine Gender-Debatte heraufzubeschwören angesichts der Weigerung Andreas Kümmerts, trotz erfolgreichen Votings für Deutschland zum Eurovision Contest nach Wien zu fliegen.
Die Songs von Kümmert hab ich mir bislang nicht angehört. Stattdessen kam mir ein Lied in den Sinn, das um etliche Jahrhunderte älter ist als die Stücke vom Eurovision Contest. Es hat ein Adliger namens Guilhèm gedichtet, der von 1071 bis 1127 lebte. Das Lied eröffnet er so: „Ich mach ein Lied aus reinem Nichts / Von mir nicht und von keinem spricht’s / Nicht Liebeslied, nicht jugendlich / Noch irgendwas. / Ich hab’s im Schlaf gemacht, als ich / Im Sattel saß.“
Nachdem ich verschlafen vom Fahrradsattel absteige, frage ich mich aus reinem Nichts, ob ich eine Chance erwische, mit diesem leichtfüßigen Lied beim nächsten Contest teilzunehmen. Oder: Schaffen es Madonna und ihre Produzenten, das Lied packend zu verwursten? Niemand erwidert.
Plötzlich rollen wir aus dem 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung geschwind ins 18. Jahrhundert, warum weiß ich jetzt auch nicht. Vielleicht, weil es viel einfacher ist, eine Story zu schreiben, die in null Komma nichts durch die Äonen reist, als etwa einen Film zu drehen, der das tut. Nicht nur einfacher, sondern obendrein preiswerter!
Der Text, auf den ich nun stoße, ist präzise einem Jahr zuzuordnen, nämlich 1772. In dem Jahr erschien übrigens die erste Übersetzung des Korans direkt aus dem Arabischen ins Deutsche: „Die türkische Bibel“. Doch das lassen wir am Rande stehen, wenden uns einem Brief vom 1. Mai 1772 zu, den der Autor Gotthold Ephraim Lessing an Eva König schickt. Er arbeitet zum Broterwerb als Bibliothekar in Wolfenbüttel. Von dort aus schreibt Lessing die folgenden Sätze, die ich gefunden habe, ohne sie zu suchen: „Ich will hier sein, wie wir überhaupt in der Welt sein sollten: gefasst, alle Augenblicke aufbrechen zu können, und doch willig, immer länger und länger zu bleiben.“
Wie wir nun zum Ausgangspunkt ins 21. Jahrhundert zurückgelangen, überlasse ich basisdemokratisch den Lesern selbst. Es ist ja bloß ein Text um nichts, dem allerdings doch unvermeidlich ein wenn auch winziger Nutzwert innewohnt. Hier ist er: Wolfenbüttel ist überall.
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