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„Die Vollkommenheit der temperierten Zonen“

■ Henning Melber in „Der Weißheit letzter Schluß“ über Rassismus und kolonialen Blick/ Von der Praxis der Conquistadoren und der der Täter von Hoyerswerda und Hünxe

In einem hierzulande weitverbreiteten Lehrbuch für Hauptschulen ist folgendes nachzulesen: „Die Kulturstufen sind wie eine Treppe: auf den Stufen die Menschen, stehend oder steigend. Ganz oben thronen wir. Unsere Kultur erscheint als Vorbild für die Entwicklung der anderen Kulturen. Das sieht so einfach aus. Die Wirklichkeit ist viel schwieriger: das Hinaufsteigen auf eine höhere Kulturstufe, das Übernehmen einer anderen Kultur, das Aufgeben der eigenen Kultur.“ Das Zitat entstammt Henning Melbers neuem Buch Der Weißheit letzter Schluß, und es steht exemplarisch für das, was im Untertitel als „Rassismus und kolonialer Blick“ bezeichnet wird.

Die Kategorie des kolonialen Blicks bringt unter einen Hut, was zusammenhängt, meist jedoch getrennt voneinander erscheint: die Praxis der Conquistadoren und die der Täter von Hoyerswerda und Hünxe. Was den einen Peitsche und Bibel war, ist den anderen Baseballschläger und Brandsatz: Erziehungsmittel, mit dem vermeintliche oder tatsächliche Fremde zur zivilisatorischen Räson gebracht oder ausgemerzt werden sollen. Die real existierende „universelle Theorie der Fremdheit und ihrer notwendigen Aufhebung“ verdankt sich dominanten Traditionen der Aufklärung: Kehrseite ihres menschenrechtlichen Universalismus war — angesichts kolonialer Plünderungszüge — von je her eine „Hierarchisierung der Welt“, die Nichteuropäer zum Objekt pädagogischer Fürsorge degradierte. Kant zufolge erreichen die Bewohner der „heißen Länder“ nicht die „Vollkommenheit der temperierten Zonen“, für Hegel war Afrika „das Kinderland jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte“.

Das lebt fort: Etwa wenn der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Zeidler, Mitte der achtziger Jahre von „afrikanischen Massenmenschen“ spricht, die „unerzogen im Busch leben“ und die „Erkenntnisstufe der Abstraktionsfähigkeit noch nicht erreicht“ haben. Ebenso in Modellen einer „Weltpolizei“ oder „humanitärer Eingreiftruppen“, denen der Gedanke notwendiger Zivilisationstransplantation immanent ist. Der koloniale Blick ist auch präsent, wo umgekehrt das Bild vom „edlen Wilden“ als Projektionsfläche europäischer Befindlichkeit herhalten muß.

Da Melber solche „ideologische Vergesellschaftung“ als (oft subtilen) flächendeckenden Prozeß faßt, gelangt er über aktuelle Ansätze hinaus, die Rassismus vorrangig als zu resozialisierende Delinquenz fassen und damit hinterrücks ein intaktes Ganzes unterstellen. Gegen letzteres beharrt der Hinweis auf den Zusammenhang vom kolonialen Blick und politisch-ökonomischen Interessen auf der Notwendigkeit von Gesellschaftskritik. Wem das zu altmodisch ist, der sollte das Buch nicht lesen. Ralf Schröder

Henning Melber: Der Weißheit letzter Schluß · Rassismus und kolonialer Blick. Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt/M. 1992. 160 Seiten, Paperback mit zahlreichen Abbildungen, 19,80DM

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