Die Volkspartei der Pragmatiker: Das grüne Wunder von Stuttgart
Stuttgart ist die erste Landeshauptstadt, in deren Stadtparlament die Grünen die stärkste Fraktion stellen. Wie schaffen sie eigentlich den Spagat zwischen Finanzkrise und Streuobstwiese?
Wenn Werner Wölfle auf Stuttgart herumläuft, knirscht die Stadt, als würde er durch ein Gleisbett der Deutschen Bahn wandern. Von der Weißenhofsiedlung bis zum Hauptbahnhof braucht der 55-jährige Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stuttgarter Gemeinderat drei Schritte.
Um dem störrischen Volk die Untergrabung des alten Hauptbahnhofes schmackhaft zu machen, ließ Oberbürgermeister Wolfgang Schuster von der CDU im Eingangsfoyer des Rathaus ein klassenzimmergroßes Luftbild von Stuttgart mit Glasplatten zum Darüberlaufen installieren. Inklusive Hologramm-Effekt. Je nach Blickwinkel sieht man die Stadt vor und nach dem Umbau. Der Entwurf der Projektgegner ist nirgends so aufwendig illustriert. Er habe eben keine 490.000 Euro, um den von ihm favorisierten Umbau des Kopfbahnhofes so nett zu präsentieren, sagt Wölfle. So viel ließ sich die Stadt die Show samt ein paar Grafiken und Computern an der Wand kosten.
Am heutigen Mittwoch tritt der neue Stuttgarter Gemeinderat zusammen, in dem die Grünen stärkste Fraktion sind. Sie haben bei den Wahlen am 7. Juni 025,3 Prozent der Stimmen erhalten, vor der CDU (24,3 Prozent), der SPD, (17,0 Prozent), der FDP (10,9 Prozent) und den Freien Wählern (10,3 Prozent). In der Sitzung wird es sofort um "Stuttgart 21" gehen, die geplante Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofes. Die Grünen wollen dazu entweder einen Bürgerentscheid oder eine Bürgerumfrage am Tag der Bundestagswahl am 27. September. Die nötige Zustimmung der SPD will diese nur geben, falls das Bahnhofsprojekt für die Stadt teurer als geplant wird. IA
Werner Wölfle stellt sich auf den Schlosspark und zeigt auf die Bahngleise, die sich drei Meter vor ihm über den Neckar hinweg durch einen Tunnel und dann parallel zu dem Grünstreifen in die Stadt ergießen wie eine dicke Ader. Am Bahnhof sind sie dann abgehackt. "Da sag ich immer zum Schuster: Die sollen die Stadt teilen? Das teilt die Stadt." Er fuchtelt mit dem Arm zwei nicht ganz so dicke Adern entlang, Straßen: Die Bundesstraßen 14 und 27, sie pferchen die Stuttgarter in ihrem Talkessel von zwei Seiten ein wie Schafe auf der Weide.
Dem Oberbürgermeister Schuster liefen die Wähler bei der Kommunalwahl am 7. Juni gleich in Herdenstärke davon. Sie fühlten sich gelinde gesagt nicht ernst genommen, weil Schuster trotz mehr als 70.000 gesammelter Unterschriften keinen Bürgerentscheid über das Projekt "Stuttgart 21" wollte. Wahrscheinlich hätten ihn die Wähler zum Ausstieg gezwungen, aus dem Drei-Schluchten-Staudamm des Südwestens sozusagen, bei dem für 3 Milliarden Euro der Hauptbahnhof samt der dicken Bahnader ein Stockwerk tiefer in den Erdboden verlegt werden soll. Gegengutachter prognostizieren wesentlich höhere Kosten.
Jetzt bauen sie erst mal im Rathaus um: Die SPD muss ihre bisherige Geschäftsstelle im Erdgeschoss zugunsten der Grünen räumen und zur CDU und ihrem Lufthologramm ziehen. Wölfle steht nämlich auf einmal der größten Fraktion im Gemeinderat vor, und seine Grünen bekommen mehr Raum. Sie sind nun die Volkspartei - in der Hauptstadt der Schwaben und Badener, denen man früher gern nachsagte, sie würden auch einen Sack Kartoffeln wählen, solange CDU draufsteht.
Das ist eigentlich genauso falsch wie die Annahme, einzig der Bahnhof habe das grüne Wunder herbeigeführt. Etwas untertrieben dürfte zwar sein, wenn Wölfle sagt, es habe zwei, drei Prozent gebracht, dass die Grünen als einzige große Partei gegen die Bahnhofsvergrabung sind, CDU, SPD, Freie Wähler und FDP seit Jahren dafür. Wölfle sitzt nun gegenüber dem Rathaus in einem Café, ein jovialer Typ in Jeans und weißem Hemd und barfuß wegen der Hitze.
Thorsten Gutbrod ist auch so ein Barfußtyp. Der studierte Volkswirt hatte mal einen Skaterladen und sieht mit seinen schulterlangen Harren immer noch so aus. In einer Wahlbroschüre der Grünen hat er einen Text über die "Wagenhallen" geschrieben, die Subkultur-Oase in Stuttgart, in der er einen Club betreibt. Die "Wagenhallen" sind ein Mythos und einer der wenigen Orte, an denen Lebenskünstler und Freigeister die Mieten berappen können. Früher haben dort Lokomotivführer ihr Handwerk gelernt, die Bahn hat Wagen repariert. Das Ganze ist so lange her, dass Gutbrod manchmal vergreiste Arbeiterveteranen in Rollstühlen durch das alte Klinkergemäuer mit den vielen Fenstern und den Stahlträgern an der hohen Decke umherschiebt. Man kann schließlich noch immer das Maschinenöl riechen. Als die Bahn ihre Gelände als Teil der Finanzierung von "Stuttgart 21" für 459 Millionen Euro an die Stadt verkaufte, haben sich im Jahr 2003 Künstler zusammengetan, um die Wagenhallen dort zu retten. Im Prinzip gibt es die Halle nur wegen des Bahnprojektes.
70 Künstler arbeiten hier, Leute wie Thomas Putze, der nichts dagegen hat, dass man den Haufen Schrott vor seinem Stück Halle als Müllhalde bezeichnet. Er braucht den Platz, sägt mit einer Motorsäge grobe Holzfiguren, massige Gestalten, aus denen Metallstücke oder zersägte Skier herausragen. Ein paar Doktoranden der Universität Stuttgart nebenan forschen auf dem Feld der Baubotanik. Ihre Baumpflanzungen auf dem weiten Gelände verwachsen untereinander oder mit künstlichen Stoffen dergestalt, dass irgendwann bewohnbare Strukturen entstehen sollen. Weil die Stuttgarter dieses verwinkelte Stück Kreativgründerzeit lieben, findet jede Partei die Wagenhallen mittlerweile toll. Zumindest das Gebäude soll Stuttgart 21 überleben.
Refugium am Abstellgleis
Ein paar hundert Meter weiter stehen alte Waggons auf einem Abstellgleis, seit Jahren bunt bemalt und bevölkert von Künstlern und Studenten. Alle paar Wochen schmeißen sie eine Party, ein alternatives Refugium, wenn die Innenstadt in der Nacht mal wieder mit solariumgebräunten Boutique-Teenagern auf Parfümwolken überschwemmt ist. Sie würden mit dem Bahngroßprojekt verschwinden.
Mal feiert in den Wagenhallen eine Bank, ein Automobilkonzern, mal die Grünen, die Linke, die SPD oder die ortsansässigen Hells Angels ihren 25-jährigen Geburtstag. Mit dem Geld finanziert Gutbrod dann meist defizitäre Konzerte von Künstlern aus Afrika, Südamerika oder Osteuropa. Einmal kam auch Oberbürgermeister Wolfgang Schuster samt Entourage aus dem Talkessel. Gutbrod war barfüßig und sagte irgendwann ungefähr: "Wolfgang, du interessierst dich doch gar nicht wirklich für uns."
Zu Parteien äußerst sich Gutbrod nicht, weil er sie alle braucht, wenn 2011 die Verträge mit der Stadt über die Nutzung der Hallen mal wieder auslaufen. Dafür sagen die Künstler einiges. "In diesem Projekt stecken viele grüne Gedanken", sagt etwa Stefan Charisius in seinem Atelier. Der Diplom-Sprecherzieher spielt die "Kora", eine afrikanische Harfe, und beherbergt mit "Dundu" den seiner Meinung nach perfekten Politiker: eine fast fünf Meter hohe Puppe seines Partners Tobias Husemann. Aus weißen Kunstfasern sieht sie aus wie von einer Spinne gewebt, ist fast transparent, vernetzt, eine Hülle, die er beliebig mit Leben füllen könne. Vielleicht kommen die Grünen in Stuttgart dem am nächsten: Sie sind kein starrer Koloss, sondern pflegen einen flexiblen Politikstil, der in alle Richtungen vernetzt ist, ohne gleich mit einem Parteibuch zu winken. Hier haben sie Anschluss an die Klientel Subkultur, Kunst und soziale Bewegungen: Neben Dundu baut Husemann riesige Seehofer- oder Ilse-Aigner-Köpfe. Man kennt sie von Campact-Aktionen gegen Genmais. Die Grünen, sagen sie hier, hätten die anderen Fraktionen im Gemeinderat erst vom Stellenwert dieses Künstlerhortes überzeugt. Ohne hier auch nur ein einziges Parteimitglied vorweisen zu können.
Das Palmerprinzip
Mit Subkultur allein lässt sich in Stuttgart nicht stärkste Fraktion werden. Schon seit Mitte der 80er-Jahre erzielen die Grünen im Südwesten immer wieder Ergebnisse zwischen 15 und 20 Prozent. In zwei der großen Städte, mit einem großen Anteil an Studenten und alternativen Milieus, stellen sie die Bürgermeister: Freiburg und Tübingen. In Tübingen radelt Boris Palmer regelmäßig in seinen Amtssitz, 2004 kandidierte er auch in Stuttgart als OB. Ob er das bei der nächsten Wahl 2012 in Stuttgart wieder macht, dazu schweigt er so hartnäckig, ein Dementi klingt definitiv anders. Kürzlich hat er einen Dokumentarfilm über sich in Stuttgart aufgeführt, "Das Palmerprinzip".
Am Ende stand er vor silbernem Vorhang und imitierte die zerhackte Sprechweise des Ministerpräsidenten Oettinger perfekt, der ihn einst des Landesverrates bezichtigte, weil er einen Toyota Prius statt eines Daimlers fuhr. Sein Prinzip ist das der Grünen im Südwesten, das auch ihren Erfolg in Stuttgart erklären könnte: "Man isch, was man sagt." Das hat durchaus was mit schwäbischer Mentalität zu tun - die Grünen im Südwesten stellen im Bundesvergleich die Pragmatiker.
Ober-Realo Fritz Kuhn kommt von hier und Gottvater Joschka Fischer ist in Oeffingen bei Stuttgart aufgewachsen.
Wölfles Selbstdefinition: pragmatisch, er paktiert im Gemeinderat auch mal mit der CDU. "Wir sparen eben nicht nur Geld, sondern künftig auch CO2", formuliert Boris Palmer die schwäbisch-grüne Symbiose. Er nennt tatsächlich Bodenständigkeit als "entscheidenden Faktor". Irgendwie schaffen sie den Spagat zwischen Künstlern in den Wagenhallen, der Erklärung des Milliardenverlusts bei der Landesbank und den Streuobstwiesen.
Am Ende seines Films steht Palmer in Gummistiefeln auf einer Leiter, die an einen Apfelbaum gelehnt ist. Alte Schwaben schauen zu ihm empor, um seinen Ausführungen über den richtigen Beschnitt zu lauschen. Ihre Kommentare würde man ohne hochdeutsche Untertitel nicht verstehen. Dann erntet Palmer Gelächter und erreicht so auch ein urkonservatives Publikum auf dem Land: Mit Bäumen sei das wie in der Politik, sagt er mit abgeschnittenem Ast: Das Grüne sei das Beste, da wächst es. Das Schwarze sei sogar schon tot.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin