piwik no script img

Die Violine als Klagende

■ SHMF: Eine eindringliche Welturaufführung in der Musikhalle

Die Musik scheint aus dem Nichts zu kommen und verweht wieder langsam im Nichts. Behutsam, fast stockend intoniert die Sologeige allein die ersten Tonsignale, erst ganz allmählich an Intensität gewinnend, auf diese Weise den Prozeß der Rückerinnerung an einen Verstorbenen nachfühlbar machend. Daß diese Erinnerung eine ganz eigene ist, macht Gija Kantscheli in seinem Violinkonzert Lament – Trauermusik im Gedenken an Luigi Nono unmißverständlich klar. Sowohl der Verzicht auf vordergründig bezugstiftende Stilzitate aus Nonos Werk wie die Wahl der Konzertform führen dazu, daß die persönliche Klage stets im Mittelpunkt bleibt. Denn die Solovioline ist der Klagende, in dessen Gesang sich Schmerz, Sehnsucht und Resignation gleichermaßen spiegeln, immer wieder zurückgeführt auf das Alleinsein, dem tastend kargen Motiv, das Anfangs- und Endpunkt des Konzerts bildet. Gidon Kremer spielte sie bei der im Rahmen des Schleswig-Holstein Musikfestivals stattfindenden Welturaufführung des Werks am Montag abend in der Musikhalle eindringlich.

Das Orchester gibt nicht mehr als Anstöße zu diesen Reflexionen und entwickelt bei aller Farbigkeit kein virtuoses Eigenleben, das von der monologischen Unmittelbarkeit abgelenkt hätte. Den kontrastierend lichten Impuls spendet Maacha Deubners ätherisch-klare Sopranstimme: Zuerst Psalmentexte, dann ein Gedicht des Deutschamerikaners Hans Sahl strahlen Tröstung und Vertrauen in eine Art Seelenwanderung aus.

Mehr als alles andere spricht für das Werk und seine Interpreten – neben Kremer die Norddeutsche Philharmonie Rostock unter Andreas Zilm –, daß sie das Publikum die gesamte Dauer des Konzerts über in Bann halten konnten, denn das Werk dürfte mit fast einer Stunde Spieldauer eines der längsten seiner Art sein. Vorher gab's noch Mahlers Vierte, in einer rundweg verzichtbaren Interpretation: wenig mehr als ein Beispiel trüben, uninspirierten Orchesteralltags.

Jörg Königsdorf

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen