Die Verbannung des kollektiven Agitators aus dem „Roten Kloster“

■ Sektion Journalistik an der KMU kämpft gegen eigene Vergangenheit / Studenten fordern moderne Angebote Eine Wissenschaft zwischen stalinistischer Geschichte und marktwirtschaftlicher Zukunft

Diese Sektion war schon immer etwas Besonderes. Einmalig und begehrt, parteitreu und verrufen, besonders widersprüchlich. Im Moment hat die Sektion Journalistik der Karl-Marx-Uni in Leipzig besondere Probleme. Sie stürzen von allen Seiten und aus allen Zeiten auf sie ein. Man will mit großen Schritten in die Zukunft schreiten, doch der Staub der Vergangenheit wiegt schwer und vernebelt den freien Blick nach vorn. Er will beseitigt sein, bevor man sich auf den Weg macht.

Die großen Fragezeichen gehen bis in die Geburtsstunde der Sektion zurück. „Zur Heranbildung eines akademisch geschulten Nachwuchses ist der Lehrstuhl für Publizistik an der Leipziger Universität zu reorganisieren“, wurde am 9. Februar 1950 gefordert - von der Pressekonferenz des Parteivorstandes der SED. Folgerichtig war es auch das Politbüro derselben Partei, das ein Jahr später die Bildung eines Instituts für Publizistik und Zeitungswissenschaft veranlaßte. Daraus entstand am 20. September 1954 die erste deutsche Fakultät für Journalistik.

Studenten von Zeitungen anderer Blockparteien oder gar vereinzelte parteilose junge Leute wurden notgedrungen geduldet. Es gab ja auch gar keine andere akademische Ausbildungseinrichtung für Journalisten im Lande. Die Sektion Journalistik wurde zum Instrument der Ausbildung von Parteifunktionären auf Journalistenposten. Eine Auffassung, die von der damaligen Sektionsleitung bis zum Oktober 1989 mit vitaler Kraft verteidigt wurde. Sich von diesem Infekt zu befreien, bedarf es nun gründlichster Untersuchungen.

Die ersten, kosmetischen Korrekturen wurden gleich im revolutionären Spätherbst besorgt:

-Günther Raue (Professor für DDR-Journalismusgeschichte) löst den bei Studenten weitgehend unbekannten, alten Sektionsdirektor ab und beruft neue Stellvertreter.

-Ehemalige Studenten, deren Anträge auf Forschungsstudien einst aus politischen Gründen abgelehnt wurden, dürfen an die Sektion nach Leipzig zurückkehren.

-Ein Studentenrat bildet sich an der Sektion, der zugleich Vertreter in den Wissenschaftlichen Rat entsendet.

Die Wissenschaftler wollen in einer Verschnaufpause neue Lehrprogramme entwickeln. Das dauert länger als erhofft. Die ersten Freiübungen im schöpferischen Denken atmen noch viel Behäbigkeit der alten Zeit. Deshalb melden sich die Studenten selbst zu Wort.

Das uralte Schlagwort vom „Roten Kloster“ wurde zur Überschrift ihrer heftigen Erneuerungsforderungen. Das rote Kloster ist ein miserables Buch, in dem eine Brigitte Klump ihren Stasi-Komplex und ihre gescheiterte Sektionsvergangenheit zu bewältigen versucht. In der BRD erschienen, haben es die wenigsten gelesen, aber vielen spukt der Titel gerüchtevoll und sagenumwoben im Kopf herum. Die Kloster-Panik, eine Sektionszeitschrift, sorgte im Januar für allerhand Panik. Sie klagte die stalinistische Geschichte der Lehrstätte an, bewies an Beispielen aus dem Wissenschafts- und Parteileben der Sektion und Titeln von erfolgreichen Dissertationen bewies. Die angegriffenen Wissenschaftler reagierten gereizt, fühlten sich ungerecht behandelt, einige forderten rechtliche Konsequenzen für die „diffamierenden“ Autoren.

„Ich wende mich gegen die pauschalisierenden Urteile“, betont Sektionsdirektor Raue. „Wenn jemand von den früheren Absolventen die Dinge so darstellt, als sei er hier ausschließlich durch eine stalinistische Zwangsanstalt gegangen, in der für seinen Beruf aber auch gar nichts zu lernen war, dann müßte er konsequenterweise sein Diplom zurückgeben.“ Solche Fälle sind noch nicht bekannt geworden.

Als sich die Kloster-Panik dann etwas gelegt hatte, bildete der Wissenschaftliche Rat eine siebenköpfige Arbeitsgruppe, die Fälle stalinistischer Denk- und Verhaltensweisen an der Sektion aufdecken und eventuelle Opfer rehabilitieren sollte. Der Erfolg ist mager. Die zeitweilige Verhaftung von Kabarettisten aus dem „Rat der Spötter“ 1961 (u. a. Ernst Röhl, heute Eulenspiegel) und die ungerechtfertigte Streichung und Neuansetzung einer Hauptprüfung des designierten FDJ-Sekretärs 1985 blieben die einzigen konkreten Fälle. Die Kommission soll trotzdem weitersuchen. Dabei muß sie aufpassen, Studenten oder Wissenschaftler, die etwas aufdecken wollen, nicht als Nestbeschmutzer anzusehen.

Dr. Wilfried Scharf ist Kommunikationswissenschaftler in Göttingen. Sein Forschungsgebiet ist seit Jahren der DDR -Journalismus und damit notgedrungen auch die Sektion. Er fordert: „Man muß zunächst selbst zugeben, daß die Sektionsleute in den stalinistischen Strukturen alle drinsteckten und sich alle auch mehr oder weniger damit arrangiert haben.“ Die aufkommenden Probleme bei der Analyse der Vergangenheit verwundern ihn nicht. „Man brauchte an der Sektion ja gar keinen Reißwolf, weil sowieso fast alles mündlich durchgesetzt wurde.“

An der „Kaderschmiede für Parteijournalisten“ entstand zugleich ein anderes Problem, inzwischen mehrfach durch die Presse gegeistert. Am 19. März diktierte Student Falk Madeja dem Westberliner „Tagesspiegel“, daß man an dieser Sektion ohnehin nur überleben konnte, wenn man täglich geheuchelt hat. Auf ihn mag das zutreffen, aber die pauschale Verallgemeinerung trifft besonders diejenigen, die schon früher gegen die Sektionsobrigkeit aufbegehrten. Das betrifft nicht nur Studenten, wie folgendes Beispiel zeigt.

1981 erstellten vier junge Wissenschaftler eine Generalanalyse zum Inhalt von Bezirkszeitungen der DDR. Sie sprachen den Blättern größere Wirkung auf ihre Leser ab; die Berichterstattung ginge an der Realität vorbei, war das Ergebnis der Analyse. Die wurde von Ideologiesekretär Joachim Herrmann - der die Sektion nie von innen gesehen, aber genügend hineinbefohlen hat - flugs unter Verschluß genommen und verschwand auf Nimmerwiedersehen im Panzerschrank, wo sie jetzt wiedergefunden wurde.

Zwei weitere Diktate erregen bis heute die Gemüter der Wissenschaftler: 1. Werner Lamberz durfte in wissenschaftlichen Arbeiten nicht mehr zitiert werden.

2. Analysen zum „Neuen Deutschland“ waren verboten, weil es direkt dem Politbüro unterstand.

Trotzdem ist der neue Sektionsdirektor gegen die Flucht auf einen Befehlsnotstand. „Bestehende Freiräume wurden ungenügend ausgenutzt, auch durch fehlende Fähigkeiten einiger Wissenschaftler.“ Deshalb hat er sich bis zum 3. April von allen wissenschaftlichen Mitarbeitern seiner Sektion zwei Fragen beantworten lassen: Nach Publikationen in den letzten fünf Jahren und nach konkreten Forschungsvorhaben.

Was geschieht dann mit Leuten, die zweimal keine Antwort haben, aber seit mehr als 10 Jahren an einer Dissertation pinseln? „Ich weiß, daß Studenten ungeduldig auf personelle Konsequenzen warten. Aber wir werden das in den Lehrstühlen beraten. Hochschullehrer können ohnehin nur vom Minister abberufen werden.“ Dabei weiß Günther Raue, daß zwei Dinge ihn zu Entlassungen zwingen werden. Das eigentlich günstige Verhältnis Studenten-Wissenschaftler (500:92) ist nicht zu halten. Zur Profilierung der Sektion braucht er außerdem neue Leute.

Zwei Neuigkeiten stehen hingegen schon fest: Die Fachausbildung der Journalisten erfolgt nicht mehr an der Sektion, „wo sie ohnehin dilettantisch betrieben wurde“ (Raue). Der Studiengang Journalistik kann jetzt mit anderen Fachrichtungen gekoppelt werden. Die Wahl eines Fachgebiets ist Chance und Risiko des Studenten. Der künftige Absolvent der Sektion soll hohes professionelles Können mit speziellem Fachwissen verbinden können. Außerdem ist die Bewerbung zum Journalistikstudium jetzt offen ausgeschrieben. Das Pflicht -Volontariat entfällt. Es müssen aber journalistische Eignungsproben vorgelegt werden. Auch den Numerus clausus, also die Begrenzung der Studentenzahl, will man beibehalten. In diesem Jahr kamen auf 120 Plätze fast 300 Kandidaten.

Erstmals wurden die Bewerber dabei einem Test unterzogen, der von US-amerikanischen Hochschulen übernommen wurde. Sie sollten 15 Themen notieren, die sie als Journalist bearbeiten würden. Welcher Zeitgeist steckte nun in den jungen Leuten?

Top-Thema, von 41 % notiert: der Umweltschutz. Es folgen der Wahlkampf (36 %) und Erscheinungen von Neofaschismus und Rechtsradikalismus (35 %). Überraschend oft genannt wurden die Drogenproblematik (30 %), Sex und Erotik (26 %) oder Tourismus in den Westen (21 %). Völlig out dagegen die Probleme der Sowjetunion (8 %), Gewerkschaftsfragen (6 %) oder Themen der deutschen Geschichte (5 %). Insgesamt wurden 125 Themengruppen genannt.

Auf die Sektion kommt auf jeden Fall ein gesamtdeutscher Markt zu. Was kann sie einbringen? Professor Raue sieht gute Chancen: „Wir müssen unser eigenes Gesicht prägen. Die Verbindung der theoretischen Ausbildung mit dem Training praktischer Fertigkeiten ist auch in der BRD anerkannt.“ Als beispielhafte Forschungsergebnisse führt er Arbeiten zur Genretheorie und zur frühen und proletarischen Pressegeschichte an. Dr. Scharf (Göttingen) warnt dagegen vor unberechtigten Hoffnungen: „Der Markt ist dicht. Wissenschaftlich kann die Sektion nichts Neues bieten. Aber für ihre Absolventen sehe ich vielfach gute Chancen in der BRD.“

Unter den Studenten wird die Variante diskutiert, daß die Sektion Journalistik sich als Ausbildungseinrichtung für linke Journalisten im deutschsprachigen Raum profilieren sollte. „Davon halte ich sehr viel“, versichert ihr Sektionsdirektor, „wir werden nie auf dem rechten politischen Spektrum zu finden sein. Das ergibt sich schon aus unserer Gründungstradition mit Karl Bücher und den Intentionen nach 1945 mit Herrmann Budzislawski als Dekan.“ Da stimmt die Antwort des Markt-Kenners Wilfried Scharf schon bedenklich. Für ihn stellt sich diese Frage gar nicht, weil der Markt in der BRD zwar viel schlucken würde, aber keine linksorientierten Journalisten in großer Zahl. „Ich bin nicht befragt, aber ich kann nur davon abraten. Außerdem bräuchten sie für linke Journalisten ja auch linke Lehrer. Und die gibt es an dieser Sektion nicht.“ Das wird manchem wehtun, aber er kann ja jederzeit das Gegenteil beweisen.

„Wir müssen uns im Laufen die Schuhe zubinden“, kennzeichnet Günther Raue die Situation seiner Sektion. Man sollte ihr wünschen, daß sie dabei nicht ins Stolpern kommt. Besser wäre, die alten Klamotten noch einmal richtig auszuklopfen, um möglichst viel des alten Staubs abzuschütteln. Dieses Land braucht Journalisten, die die Dinge auch in Zukunft von links beobachten. Die Sektion könnte zu einer Stätte werden, wo man das lernen kann.

Jacqueline und Hagen Boßdorf