Die Unparteiischen (1): Raul Zelik, Schriftsteller : Ist das Abgeordnetenhaus überflüssig?
Am 17. September wird gewählt. Die wirklichen Fragen hat die Politik ausgeklammert. Die taz stellt sie – und lässt Unparteiische antworten.
Man könnte es sich mit einer Antwort natürlich leicht machen und wie meine Freundin L., die nächstes Jahr immerhin Lehrerin am Gymnasium wird, behaupten, dass „außer Politikstudenten sowieso niemand weiß, was im Abgeordnetenhaus geschieht“. Doch das ist kein echtes Argument: Es gibt Dinge, über die man nicht wirklich Bescheid weiß und die trotzdem alles andere als überflüssig sind. Eiskühlfächer etwa, Elektrolytkondensatoren, Herzschrittmacher.
Wenn man das Abgeordnetenhaus für überflüssig halten kann, dann deshalb, weil es im Unterschied zu Eiskühlfächern oder Herzschrittmachern eben nicht dazu da ist, der Mehrheit zu nützen, sondern das, was der Mehrheit nicht nützt, als legitim bzw. unvermeidbar zu verkaufen.
Ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte unserer Stadt: Einige moderne Raubritter, die man durchaus als Angehörige einer herrschenden Klasse bezeichnen könnte, plündern jahrelang eine öffentliche Bank, vernichten mit Immobiliengeschäften gewaltige Geldmengen und vermehren dabei ihr privates Vermögen. Öffentlich gemacht wird dieser Fall, der als Bankenskandal die Runde macht, nicht in erster Linie von den Volksvertretern, sondern von Bürgerinitiativen und einem Journalisten, der früher mal ein Autonomer war.
Als die Pleite der Landesbank absehbar ist, rekurriert man im Abgeordnetenhaus auf sozialistische Konzepte: Anstatt die Verursacher zur Kasse zu bitten, die erkleckliche Liegenschaften in Zehlendorf & Co besitzen, vergesellschaftet man die Verluste. Folgerichtigerweise muss der Gürtel enger geschnallt werden, und die Allgemeinheit stellt überrascht fest – komisch aber auch –, dass vor lauter Sparen die U-Bahn plötzlich genauso viel kostet wie das Taxi und man deshalb besser gleich zu Hause bleibt.
Um die INNERE SICHERHEIT (neuerdings ganz groß geschrieben!) zu gewährleisten, sorgen die Volksvertreter abschließend noch dafür, dass die Initiative, die den Fall öffentlich gemacht hat, mit V-Leuten polizeilich durchleuchtet wird. Dieses wunderbare Ineinandergreifen von Demokratie, Staatlichkeit und Enteignung zeigt letztlich allerdings, dass Abgeordnetenhäuser aus einer anderen Perspektive doch nicht überflüssig sind. Sie besitzen sehr wohl eine Funktion: Sie sorgen dafür, dass Umverteilung politisch vermittelt wird und als vernünftig erscheint.
Nun könnte man andererseits die These vertreten, dass im Abgeordnetenhaus auch immer wieder jene eine Stimme finden, die sich diesen Legitimationsübungen widersetzen. Nicht ganz falsch, aber leider auch nicht ganz richtig. Wen haben wir nicht schon alles gewählt, damit mal grundsätzlich widersprochen wird? Alternative Liste, Grüne, Bündnis 90, PDS, Linkspartei … Sobald der Einzug ins Abgeordnetenhaus einigermaßen gesichert war, haben alle die gleiche Entwicklung vollzogen.
So gesehen bleiben, wenn man will, dass die herrschende Klasse zumindest für das von ihr zerbrochene Geschirr selbst aufkommt, nur die sozialen Bewegungen. Mit Leuten vom Abgeordnetenhaus hält man dann zwangsläufig Kontakt: Die Volksvertreter schicken sicher wieder jemand zur Beobachtung vorbei.
PS: Wählen werde ich diesmal trotzdem gehen: zum einen, weil es eine Liste gibt, die als Nein-Stimme nicht unterschlagen werden kann, zum anderen weil mein Kumpel M. ganz richtig angemerkt hat: „Wenn Nichtwählen was verändern würde, wäre es verboten.“ RAUL ZELIK
Morgen: Machen Berliner Schulen dumm? Es antwortet: Henning Vierck, Leiter des Comenius-Gartens in Neukölln