■ Die UNO hat ihre "Trümpfe" verspielt: Die Ankündigung der UNO, sich in dem Fall, daß die bosnischen Serben nicht kooperierten, aus Bosnien-Herzegowina zurückzuziehen, dürfte von den Serben kaum als Drohung empfunden werden
Die Ankündigung der UNO, sich in dem Fall, daß die bosnischen Serben nicht kooperierten, aus Bosnien-Herzegowina zurückzuziehen, dürfte von den Serben kaum als Drohung empfunden werden
Die UNO hat ihre „Trümpfe“ verspielt
Auch gestern wurde Goražde von serbischen Truppen angegriffen. Nach einer relativ ruhigen Nacht wurde der Busbahnhof der Stadt unter schweres Artilleriefeuer genommen. Es erscheint durchaus fraglich, ob die Verteidiger der Stadt diesen Angriffen nach dem Verlust eines großen Teils des Umlandes noch lange standhalten können, zu groß ist der Druck der mit schweren Waffen gut ausgerüsteten serbisch-bosnischen Armee. Und die Folgen einer Eroberung der mit Flüchtlingen überfüllten Stadt, das wissen auch die UNO-Offiziellen, wären für die Bevölkerung fürchterlich. Nach der Geiselnahme von 150 bis 200 Blauhelmen durch die serbische Seite – gestern wurden 19 von ihnen freigelassen – ist die Bereitschaft der UNO kaum mehr erkenntlich, eigene Risiken zum Schutz der Bevölkerung Goraždes einzugehen.
Dagegen wurde am Sonntag, auch nachdem ein britisches Aufklärungsflugzeug am Vorabend über Goražde abgeschossen worden war, weiter verhandelt. Doch die Verhandlungsstrategie der UNO-Offiziellen in Bosnien-Herzegowina bleibt unverständlich. So versuchte der persönliche Gesandte des UNO-Generalsekretärs, Jasushi Akashi, bei seinen gestern vormittag begonnenen Gesprächen in der Hauptstadt der serbisch besetzten Zone, Pale, den Serbenführer Radovan Karadžić davon zu überzeugen, wieder mit der UNO zu kooperieren. Es hat den Anschein, als sei Akashi zu einem Canossa-Gang bei Karadžić angetreten, um die UNO-Mitarbeiter doch noch freizubekommen. Nach inoffiziellen Quellen der UNO in Zagreb habe Akashi die Forderungen nach einer sofortigen Waffenruhe und nach dem Rückzug der serbischen Truppen bis auf drei Kilometer vom Zentrum der Stadt Goražde bei den Gesprächen mit Karadžić nicht mehr allzu lautstark vertreten. Im Gegenzug habe die UNO versprochen, in Zukunft keine Nato-Flugzeuge mehr über dem Luftraum von Goražde auftauchen zu lassen, erklärten Pressesprecher des UNO-Hauptquartiers.
Würden die Bedingungen der UNO nicht erfüllt und die serbische Seite weiterhin nicht bereit sein, „mit der UNO zu kooperieren“, dann könnte die UNO ihre Truppen aus Bosnien-Herzegowina zurückziehen, erklärte zudem der UNO-Emissär. Im Kontext der Ereignisse erscheint es allerdings fraglich, ob dieser Umstand für die serbische Seite noch eine Drohung darstellen könnte. Denn diese Erklärung wäre nur dann eine Drohung und erst dann stichhaltig, wenn zur gleichen Zeit von seiten der Nato mit einer massiven Militärintervention gedroht würde, erklärte ein Kommentator des bosnischen Rundfunks Sarajevo. Dies ist jedoch zumindest nach außen hin nicht geschehen.
Offensichtlich habe Akashi, wie schon viele UNO-Offizielle vor ihm, eine Lektion in Sachen Verhandlungen mit Karadžić erteilt bekommen, schätzen Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen in Kroatien die Lage ein. Denn Karadžić habe wieder einmal gezeigt, daß er in der Lage ist, gegebene Versprechungen wohlkalkuliert zu brechen und gleichzeitig die gesamte Führung der UNO wie auch die der Nato der Lächerlichkeit preiszugeben. Mit der Geiselnahme habe er sich offenbar freie Hand für die Eroberung Goraždes erzwungen. Und ein Großteil der Geiseln wird wohl so lange unter serbischer Kontrolle bleiben, wie die militärische Eroberung Goraždes nicht abgeschlossen ist.
Als „dilettantisch“ bezeichnete denn auch der ehemalige Kommandeur der Nato-Truppen Nord, Graf von Kielmansegg, die Planung der UNO und auch die der Nato nach dem Ultimatum von Sarajevo. Damals hätten die Weltorganisation und das Verteidigungsbündnis alle „Trümpfe“ in der Hand gehabt, mit weiterem Druck auf die serbische Seite die Enklaven zu befreien. Hätte man tatsächlich die Steigerung des militärischen Drucks geplant, hätten selbstverständlich diejenigen Truppen, die zu Geiseln des „Gegners“ werden könnten, zurückgezogen werden müssen. Der serbische Angriff auf Goražde habe ja schon vor zehn Tagen begonnen, so der General, und damit wären mögliche Gegenreaktionen durch die UNO und die Nato schon damals durchaus denkbar und kalkulierbar gewesen. Den Schluß aus diesem Gedankengang, daß Kräfte in der UNO, denen schon das Ultimatum von Sarajevo zu weit gegangen war, bewußt der serbischen Seite in die Hände spielten, will von Kielmansegg jedoch nicht ziehen. Aber immerhin sei in den letzten Wochen deutlich geworden, daß sowohl die russische wie die britische Seite in der UNO Karadžić entgegenkommen wollten. Die Serben hätten vermutlich als Preis für den serbischen Abzug aus der Umgebung von Sarajevo freie Hand gegenüber den ostbosnischen Enklaven erhalten.
In eine ähnliche Richtung argumentiert der bekannte kroatische Politologe Zarko Puhovski, der davon ausgeht, daß der Kommandierende der UNO-Truppen in Bosnien-Herzegowina, General Michael Rose, Karadžić versprochen habe, die serbischen Truppen dürften in Goražde bis zur Drina vorrücken, ohne eine Aktion der UNO befürchten zu müssen. Erst als die serbische Seite sich anschickte, über die Drina vorzustoßen, habe Rose zu Beginn letzter Woche die Luftunterstützung durch die Nato angefordert, so Puhovski. Erich Rathfelder, Split
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