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Archiv-Artikel

Die Türkei debattiert endlich über den Völkermord an den Armeniern Demokratischer Durchbruch

Nach einer Serie schlechter Nachrichten ist an diesem Wochenende mal wieder etwas Positives aus der Türkei zu berichten. Nur wenige Tage vor dem historischen 3. Oktober, an dem nach 40 Jahren Assoziierung jetzt tatsächlich Beitrittsgespräche zwischen der EU und der Türkei beginnen sollen, fand in Istanbul ein Kongress statt, der die Sinnhaftigkeit einer Aufnahme der Türkei in die Gemeinschaft besonders verdeutlicht. Seit fast 90 Jahren ist das Schicksal der armenischen Minderheit, die während des Ersten Weltkriegs aus Ostanatolien vertrieben und massakriert wurde, eines der großen Tabus der türkischen Republik.

An der strikten Weigerung, Fragen nach einer womöglich verbrecherischen Vergangenheit überhaupt zuzulassen, konnte weder der Terror der armenischen Asala in den 70er- und 80er-Jahren noch der Druck durch ausländische Parlamente etwas ändern – die Frage nach einem Völkermord an den Armeniern blieb tabu. Wie schwer es bis heute geblieben ist, über das Schicksal der Armenier in der Türkei kontrovers zu diskutieren, zeigt der Kampf um die kritische Armenier-Konferenz in Istanbul. Nur eine Intervention von Ministerpräsident Erdogan hat das Treffen der Kritiker an der offiziellen Linie möglich gemacht.

Dabei ging es zuletzt nicht mehr nur um die konkrete Veranstaltung. Die Frage war vielmehr, ob die Türkei auf dem Weg in eine demokratischere und freiheitlichere Gesellschaft bleibt oder auf die Bremse tritt, wenn es wirklich ans Eingemachte geht. Die Völkermordfrage ist in der Türkei in der gesamten Gesellschaft hoch emotional besetzt, das haben zuletzt noch die Reaktionen auf Orhan Pamuk gezeigt, der sich demnächst wegen seiner Aussage, es seien eine Million Armenier ermordet worden, vor Gericht verantworten muss.

Umso wichtiger ist, dass die Konferenz jetzt doch stattfinden konnte. Der Grund ist klar. Die Aussicht auf die Beitrittsgespräche ist es, die dem demokratischen Lager genug Rückenwind gibt, um Nationalisten und Rassisten in die Schranken zu weisen. Brüssel sollte sich über diesen Erfolg freuen. Jürgen Gottschlich