■ Die Tschechen erwachten in einem neuen Staat: Gepflegtes Selbstmitleid
Es war ein leiser Wechsel, ein sentimentaler Silversterabend: Selbst wenn die Politiker fast aller tschechischen Parteien die Freude über die Gründung des neuen Staates herbeizureden versuchten, so zogen viele TschechInnen dem Feuerwerk am Wenzelsplatz einen wehmütigen Rückblick auf eine Republik vor, die für sie 74 Jahre lang „identitätsstiftend“ war. Die Tschechoslowakei, das war der Staat des „weisen“ Tomas G. Masaryk, das war die „Brücke zwischen Ost und West“, eine „stabile“ Demokratie auch in der unruhigen Zwischenkriegszeit. Wie schwer man sich dagegen heute mit der neuen „Tschechischen Republik“ tut, machen allein zwei Beispiele deutlich. Bis heute konnte für Böhmen und Mähren-Schlesien kein Landesname gefunden werden, die sprachlich richtige Bezeichnung „Česko“ – Tschechei – wird wegen der Erinnerung an die nationalsozialistische Forderung nach der „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ besonders von den älteren Bürgern abgelehnt. Die tschechoslowakische Nationalflagge soll trotz eines Verbots des nun aufgelösten Bundesparlamentes auch zur Flagge des tschechischen Staates werden.
Während in der Slowakei mit Freudenfeuern das „Wiedererwachen der Nation“ gefeiert wurde, übten sich die Tschechen in Zurückhaltung. Doch mischt sich in die Klagen über das Ende der ČSFR selbstgefälliges Selbstmitleid, das in Böhmen eine lange Tradition hat: Als im Jahre 1620 bei der Schlacht am Weißen Berg die aufständischen Protestanten dem Heer des Habsburgerkaisers unterlagen, begann für die Tschechen die sogenannte „dunkle Zeit“, eine ununterbrochene Kette von Niederlagen, Opfern, Demütigungen, die sich bis ins 20.Jahrhundert fortsetzte: 1938, im Münchner Abkommen, wurde die Republik von ihren westlichen Verbündeten „verraten“, 1948 und 1968 mußte „man“ vor den Russen kapitulieren. Nicht wenige Tschechen sprechen heute anläßlich der Auflösung der Tschechoslowakei von einem „zweiten München“. Wieder hat „man“ uns verraten, diesmal stehen als Täter – je nach politischer Überzeugung – entweder die konservativen tschechischen Politiker oder das undankbare Volk der Slowaken bereit.
Doch die Scheidung der ČSFR war ja auch deshalb so „sanft“, weil die Tschechen auf jede Einmischung verzichteten. Während bei der „samtenen Revolution“ Hunderttausende auf die Straße gingen, fand für den Erhalt des gemeinsamen Staates keine – größere – Demonstration statt. Die wenigen tschechischen Kritiker der „Verratsideologie“ sehen die Verantwortung für die Teilung der ČSFR damit zurecht bei den Tschechen selbst: Wieder einmal haben diese auf den „Kampf“ verzichtet, wieder einmal haben sie zu früh klein beigegeben. Was also soll das Klagen? Sabine Herre
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