■ Die Täter belohnen, die Opfer ihrem Schicksal überlassen: Bosnische Lektionen
Ein neuer machtpolitischer Realismus macht sich breit in Europa – oder ist es nur der alte, der vorübergehend nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts durch Illusionen über das „gemeinsame europäische Haus“ und ein Europa der Menschenrechte überlagert wurde? Es ist der machtpolitische Realismus der von den kleinen und großen Potentaten skizzierten Landkarten, der erzwungenen Grenzverschiebungen, der „ethnischen Säuberungen“ samt ihrem Resultat, den „homogenen Nationalstaaten“. Die gegenwärtig zwischen den Großmächten gehandelten Friedenspläne für Bosnien-Herzegowina sind Zeugnisse dieser Rückkehr zur Machtpolitik sans phrase. Wer auf die letzten drei Jahre zurückblickt, kann die Logik dieser Politik erkennen:
– „Sicherung Bosnien-Herzegowinas in seinen völkerrechtlich anerkannten Grenzen“? – Tatsächlich basierten alle Friedenspläne der Großmächte auf der Anerkennung der mit Krieg und Vertreibung geschaffenene Fakten, der ethnischen, territorialen und politischen Aufteilung der Republik Bosnien-Herzegowina.
– Einrichtung von Schutzzonen durch die Vereinten Nationen? Wo die bosnische Armee nicht stark genug zur Selbstverteidigung war, wurden die „Schutzzonen“ überrannt und die Bewohner der Gewalt der Eroberer überlassen. Es ist nur konsequent, daß jetzt die Preisgabe von Goražde gegen die Räumung serbisch besetzter Gebiete um Sarajevo als Schlüssel zum Frieden gehandelt wird.
– Verhängung eines Waffenembargos gegen „die Kriegsparteien“? Während die serbische Armee von Anfang an den Kriegszug von Karadžić bewaffnete, richtete sich das Waffenembargo faktisch gegen die Opfer von Angriffskrieg und Völkermord.
– Selbst die humanitäre Hilfe der UNO für die Menschen in den Gebieten der Republik blieb abhängig vom Goodwill der serbischen (und kroatisch-herzegowinischen) Milizen. Die serbischen Vergewaltigungs- und Folterlager existierten unter den Augen der UN-Blauhelme – aber diese blieben 1992/93 ebenso „neutral“ wie jüngst bei den apokalyptischen Szenen nach der „Übergabe“ von Srebrenica.
Die Fiktion der Neutralität zwischen „Bürgerkriegsparteien“ war weder legitim noch praktikabel – sie war lediglich die Begleitmusik zu einem schrittweisen Arrangement mit den Kriegsverbrechern und Gewaltpolitikern. Karadžić und Mladić wurden vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag aufgrund detaillierter Schreckenszeugnisse angeklagt – und die internationale Diplomatie bereitete den Weg zu einem „Friedensvertrag“, der ihnen die Früchte ihrer Gewalttaten zuspricht.
Ist es so schwer zu begreifen, daß gerade diese Politik der Nicht- Intervention der demokratischen Staaten die Gewaltpolitik stark gemacht, das Unrecht legitimiert und den fanatischen Nationalismus in Serbien wie in Kroatien ermutigt hat? Und steckt in diesem Triumph des Faustrechts nicht eine Lektion, deren Bedeutung weit über den Balkan hinausgeht?
In Bosnien wird die Idee des pluralistischen, toleranten Verfassungsstaats zertrümmert; die Reethnisierung der Politik wird ihre Wellen bis in die westeuropäischen Großstädte schlagen. Die Verteidiger von Sarajevo oder Tuzla kämpfen auch um unsere Zukunft, trotzdem wurden sie bisher von Europa im Stich gelassen wie damals die Verteidiger von Barcelona und Madrid. Fehlen die antiimperialistishcen Parolen, damit deutsche Linke sich mit ihnen solidarisieren – oder wird ihnen unterschwellig vorgeworfen, selbst an ihrer Auslöschung schuld zu sein, weil sie sich aus dem jugoslawischen Staatsverband gelöst und damit den großserbischen Nationalismus herausgefordert haben? So werden Opfer zu Tätern gemacht. Wenn sich die Logik der Ultranationalisten in Serbien und Kroatien mit Hilfe der internationalen Diplomatie durchsetzt, bliebe von der Republik Bosnien, die immer noch von einem sechsköpfigen Staatspräsidium aus allen drei Volksgruppen regiert wird und in deren Armee immer noch zahlreiche „Kroaten“ und „Serben“ kämpfen, nicht mehr als ein muslimisches Reservat unter dem Protektorat Kroatiens.
Wer die wildbewegte bundesdeutsche „Bellizismus“-Debatte auf sich wirken läßt, stolpert über ihre Selbstbezüglichkeit. Es geht dabei viel weniger um Bosnien oder um den überfälligen Entwurf einer kollektiven europäischen Sicherheitspolitik als um die „antimilitaristische“ Identität der Linken und um die Furcht, an der Seite von Verteidigungsminister Rühe zu landen, wenn die Grenze zu Out-of-area-Einsätzen der Nato (und in der Konsequenz dann auch der Bundeswehr) erst einmal überschritten wird.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wer die innenpolitische Verteidigungslinie an der Ablehnung von Militäraktionen ziehen will, die völkerrechtlich legitimiert sind und humanitären Zielen dienen, wird doppelt verlieren. Erstens wird die Nato weiter ihre Schnellen Eingreiftruppen aufstellen, und die Bundeswehr wird dabeisein, egal wer in Bonn regiert. Und zweitens überlassen wir es CDU/ CSU und der Generalität, jetzt die Bedingungen für solche Einsätze festzulegen. Nicht ob die Bundesrepublik sich an Out-of-area-Aktionen beteiligt, wird in Zukunft die Frage sein, sondern in welchem politischen Rahmen und unter welchen Voraussetzungen diese Einsätze möglich sein sollen. Bedingungen könnten zum Beispiel ein Mandat der UNO und eine Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestages sein.
Gerade wer eine glaubwürdige internationale Friedensordnung fordert, muß sich der Frage nach der Garantie von Völker- und Menschenrechten stellen. Auch eine Politik der Kriegsvermeidung und zivilen Konfliktlösungen kann scheitern. Sie wird um so eher scheitern, wenn dahinter nicht die Bereitschaft steht, notfalls auch militärisch auf kriegerische Expansion und Genozid zu antworten. Solange es keine Friedenstruppen auf gesamteuropäischer oder UN- Ebene gibt, wird die Nato dabei eine Rolle spielen. Auch Bundeswehrsoldaten müssen nicht zwangsläufig in die Fußstapfen der Wehrmacht treten, sobald sie die Grenzen des eigenen Landes überschreiten.
Könnte es sein, daß hinter der Ablehnung jeder deutschen Beteiligung an einer humanitären Intervention in Bosnien ein gerütteltes Maß an nacktem nationalem Egoismus steckt? Seit wann ist die Parole „Ohne uns“ der Gipfel internationaler Solidarität? Die deutsche Geschichte jedenfalls kann dafür nicht als Legitimation bemüht werden. Ohne die Bereitschaft von Soldaten aus aller Welt, im Kampf gegen den deutschen Nationalsozialismus ihr Leben zu riskieren, wäre weder Auschwitz befreit noch Hitler gestürzt worden. Ralf Fücks
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