■ Die Sowjets wollten 1981 in Polen nicht einmarschieren: Rückblick auf Jalta
Unmittelbar nach Verkündigung des Kriegsrechts in Polen am 13.12.1981 bildete die französische Wochenzeitung Paris Match das Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion auf der Titelseite ab und setzte in riesigen schwarzen Lettern darunter: „Les assassins de la Pologne“ – die Mörder Polens. Gäbe es noch den Adressaten Zentralkomitee (Kreml, Moskau), das Massenblatt müßte sich jetzt bei ihm entschuldigen. Die Sitzung des Politbüros der KPdSU vom 10.12.1981, deren Protokoll Boris Jelzin anläßlich seines ersten Staatsbesuches den geschichtsbewußten polnischen Gastgebern überreichte, läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Die Sowjets ließen es zwar nicht an Druck fehlen, um die polnische Bruderpartei zum entschlossenen Vorgehen gegen die Solidarność zu drängen. Aber sie dachten gar nicht daran zu intervenieren. Notfalls wären sie sogar bereit gewesen, eine Solidarność-Regierung zu tolerieren. Ihre Hauptsorge war, nach Afghanistan keine neue Konfrontation mit den USA zu riskieren. Deshalb auch beschieden sie die Anfrage des Generals Jaruzelski, ob die Streitkräfte des Warschauer Paktes einem Kriegsrechts-Regime notfalls zur Hilfe eilen würden, eindeutig negativ.
Jaruzelski hat in den Jahren nach 1989 nicht ohne Erfolg an einer Version der Ereignisse um das Kriegsrecht herum gearbeitet, die ihn als Retter der Nation erscheinen läßt. Nur indem er die Initiative entschlossen an sich riß, habe er den Einmarsch der Sowjets und damit ein Blutbad verhindert. Diese Story kam vielen Interessen entgegen – unter anderem auch denen des Bundeskanzlers Schmidt und der deutschen Sozialdemokratie. Sahen sie doch nachträglich ihr schamloses Betragen nach dem 13.12.1981 gerechtfertigt, die Stoßseufzer der Erleichterung, die ihnen entfuhren, als die Panzer durch Warschau rollten. Jaruzelski wurde für sie zum Garanten dafür, daß die egoistischen Polen nicht weiter den Entspannungsbetrieb störten. Entsprechend agierten sie: keine Unterstützung für Solidarność im Untergrund, aber ein geradezu liebevolles Verständnis für den General und seine Schwierigkeiten.
Das Protokoll des Politbüros lädt zu einem – alles andere als beschaulichen – Rückblick auf das System von Jalta ein. Warum lehnte die sowjetische Parteiführung so resolut eine Intervention ab? Die USA waren durch einen Überläufer bereits im November 1981 über die Details der Kriegsrechts-Planung informiert – und hüteten sich, die Solidarność-Aktivisten von diesen Informationen in Kenntnis zu setzen. Die politische Position der sowjetischen Führung am 10.12.81 läßt nur eine Erklärung zu: Breschnew hatte von den USA ein Signal erhalten. Die Amerikaner würden die „polnische Lösung“ der Krise tolerieren. Dies den politischen Zeitgenossen zur Erinnerung, die heute wehmutsvoll an die ach so stabilen Zeiten der Blockkonfrontation zurückdenken. Christian Semler
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